: Lücke im Bewusstsein
Seltsames Buch: „16.7.41“ von Dag Solstad
Dag Solstad: „16.7.41“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann, Zürich 2020, 288 Seiten, 22 Euro
Ein ungewöhnlicher Titel: „16.7.41“. Es ist das Datum, an dem der Schriftsteller Dag Solstad in Sandefjord, einer kleinen Hafenstadt südlich von Oslo, geboren wurde. Einen Hinweis, warum er diesen Titel gewählt hat, gibt der Held des Romans – der „Autor Dag Solstad“ – in einem Vortrag in Lillehammer. „Haben meine großen Romanautoren“, fragt er dort seine Zuhörer, „für mich packende Geschichten geschrieben? Nein.“ Und was könnte weniger „packend“ sein als ein Roman mit einem Datum als Titel? Solstad akzeptiert, dass ein Roman von einer Geschichte zusammengehalten wird; aber „zugleich ist es nicht das, was mich an einem Roman, der mich gepackt hat, interessiert.“
Die Geschichte in „6.7.41“ beginnt mit der uninteressanten Beschreibung einer Flugreise von Oslo nach Frankfurt a. M., wo Solstad an der Buchmesse teilnehmen soll. Jeder, der einmal geflogen ist, hat Ähnliches erlebt. Bis Solstad davon erzählt, wie er beim Blick aus dem Fenster plötzlich den himmlischen Thron (allerdings ohne Gott) sieht und dann seinen lange toten Vater. „Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte.“
Der mittlere, größte Teil von „16.7.41“, besteht aus der Beschreibung von Spaziergängen, die Solstad in Berlin unternimmt, wo er kurz nach der Jahrtausendwende gelebt hat. Die Anlässe für diese Entdeckungstouren sind banal: die Umgebung seiner Wohnung in Kreuzberg erkunden und mit dem Stadtplan vergleichen oder ein paar Schuhe im KaDeWe kaufen. Aber auch seine Beobachtungen sind wenig originell. Stumme oder missverständliche Begegnungen in seiner Lieblingskneipe (Solstad spricht kein Deutsch), ein Kommentar zum Abriss des Palastes der Republik und dem Wiederaufbau des Schlosses (das immer ein „Pappschloss“ bleiben wird) und sein Bekenntnis, ein Ossi zu sein (Solstad war lange Zeit Maoist und hat Agitprop-Romane verfasst).
Es stimmt, der Leser stößt in diesem Teil des Romans auf keine „packende“ Geschichte. Aber wenn es richtig ist, dass ein guter Roman nicht von einer guten Geschichte abhängt, wovon dann? Der Stil ist es auch nicht. „Ich bin kein begnadeter Stilist“, schreibt Solstad an einer anderen Stelle. „Die Sprache ist ein löchriges, zerschlissenes und geflicktes Netzwerk.“
Am Ende ist es dann eine Geschichte, die den Leser nach der langen Berliner Durststrecke wiederaufleben lässt. Solstad erzählt hier von seiner Kindheit in Sandefjord und seinem Vater, der erst mit einem Kolonialwarenladen, danach mit der Erfindung eines Spielzeugfallschirms scheiterte. Am Ende glaubte er, die Lösung für das Perpetuum mobile gefunden zu haben. Das erinnert an Bruno Schulz, der seinen Vater mithilfe von Hühnern exotische Vögel ausbrüten lässt, oder an den Vater von Wilhelm Genazinos, der wie Solstads Vater als Erfinder scheiterte. „Ich muss einfach zugeben“, schreibt Solstad, „seit Vaters Tod war ich nicht mehr ich selbst. Ich war der Autor Dag Solstad. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen.“
Nun, ein Autor ja, sogar einer, den viele Kritiker für den größten Norwegens halten, aber keiner, der mit „6.7.41“ einen guten Roman geschrieben hätte. Fokke Joel
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