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Ein Hort für die Gestrandeten

Friedhöfe für angeschwemmte Tote gibt es auf allen friesischen Inseln. Der „Drinkeldodenkarkhof“ auf Spiekeroog erinnert aber an eine besondere Katastrophe: den Untergang des Auswandererschiffs „Johanne“ im stürmischen November 1854 mit 77 Ertrunkenen

Von Petra Schellen

Die Katastrophe von einst, auf wenige Quadratmeter zusammengeschrumpft: Klein und beschaulich liegt der „Drinkeldodenkarkhoff“ mit Anker, Gedenktafel und Bänken im Osten der Nordseeinsel Spiekeroog. Der „Ertrunkenenfriedhof“ ist ein Ort zum Verweilen auf dem Weg zum Strand geworden, heimelig zwischen Straße und Ferienhaussiedlung.

Dies scheint nun wirklich kein Ort des Dramas zu sein, und auf den ersten Blick stimmt das auch: Längst ist die Atmosphäre nicht so drückend wie etwa in KZ-Gedenkstätten, wo das vor 80 Jahren geschehene Leid verdichteter, greifbarer ist – auch, weil Architektur, Areal und aufgefundene Gegenstände sehr konkret an die Gefangenen und Ermordeten erinnern.

Von den Qualen Ertrunkener zeugen dagegen wenig Spuren. Da war ja nur das geborstene Schiff, und das ist längst verweht, versunken, demontiert. Deshalb dauert es auf dem Drinkeldodenkarkhoff länger, bis man in die tiefer liegenden emotionalen und historischen Schichten hineingespürt und hervorgeholt hat, wofür dieser Ort steht: für das große Sterben auf dem Auswandererschiff „Johanne“, das mit 216 Menschen an Bord am 6. 11. 1854 aus Bremerhaven – dem damaligen Geestemünde – nach New York aufbrach. Aus Süddeutschland, zum Beispiel aus Kaufungen bei Kassel, kamen die Menschen, die, wie so viele damals, vor Hunger und Missernten flohen.

Die Voraussetzungen für die „Johanne“ schienen auf den ersten Blick gut: Schiff und Mannschaft waren nagelneu, der Kapitän erfahren. Nur, dass es schon spät im Jahr war, Anfang November, und die schweren Herbststürme, die ostfriesischen Inseln dafür berüchtigt, die Schiffe gnadenlos aufs Festland drücken, bis sie barsten. Der Kapitän der „Johanne“ bemerkte es schon beim Auslaufen, registrierte den stärker werdenden Sturm und hätte sicher umkehren und das Unglück verhindern können.

Warum er das nicht tat, kam nie heraus. „Vielleicht“, sagt Dieter Mader, Vorsitzender des Inselmuseums Spiekeroog, „war er zu stolz. Aufgeben hätte Versagen bedeutet, und das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Er dachte wohl, es ist noch immer gut gegangen, und er bekommt das hin.“

Womöglich hatte der Kapitän auch die Reederei im Rücken, die diese Novemberfahrt noch mitnehmen und an ihr verdienen wollte – wer weiß. Die im niedrigen Mitteldeck samt Gepäck zusammengepferchten Menschen jedenfalls ahnten nicht, dass sie nur bis Spiekeroog kommen, dass 77 von ihnen vor der Insel ihr Leben lassen würden, als der Sturm die Masten herunterriss, Menschen an die Schiffswände drückte oder über Bord spülte. 18 Männer, 34 Frauen, 18 Kinder unter zehn Jahren und sieben Babys starben.

Dass der Kapitän und seine Mannschaft fast komplett überlebten, hat da ein merkwürdiges Geschmäckle, vielleicht haben sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. „Nachforschungen haben damals nichts in dieser Richtung ergeben und der Kapitän wurde von jeder Schuld freigesprochen“, sagt Mader.

Überlebende und Hinterbliebene dagegen mussten hart kämpfen, um der Reederei Schadenersatz abzutrotzen. Presse und die aufgebrachte Öffentlichkeit erzwangen schließlich, dass die Überlebenden wenigstens Fahrkarten für einen zweiten Versuch bekamen. Aber da hatten viele schon aufgegeben. Denn wen die Spiekerooger nach Stunden, als die Flut endlich sank, in ihren labilen Boten gerettet hatten: der wollte schleunigst weg von der Insel, bevor sie die Winterwitterung von der Außenwelt abschnitt.

Aber die Toten konnten sie nicht mitnehmen, und auf dem Friedhof hinter der alten Inselkirche war zu wenig Platz für die 77 Opfer. Also beschloss man, sie auf einem eigenen Friedhof in den Dünen – damals noch außerhalb des Dorfs – zu bestatten.

Er war damals wesentlich größer und ist heute zum Teil überbaut. Getauft hat man ihn nicht, wie auf anderen Inseln, „Friedhof der Heimatlosen“, sondern, plattdeutsch und durchaus zutreffender, „Drinkeldodenkarkhoff“. Einige Namen sind auf einer Gedenktafel verewigt, aber systematisch vervollständigt und mit den Passagierlisten abgeglichen wurden sie bis jetzt nicht. Warum, wisse er nicht genau, sagt Mader. Aber man habe es immer mal überlegt und werde es vielleicht noch tun.

Dafür kommen zu den Gedenkfeiern an Jahrestagen des Unglücks immer noch Menschen aus der süddeutschen Heimat der Ertrunkenen. Und im Inselmuseum finden sich nicht nur die Schiffsglocke – zunächst, wie andere Wrackteile, verkauft und später zurückerworben –, sondern auch etliche Dankesbriefe der Geretteten.

Tragisch allerdings, dass die zunächst lautstarken Forderungen der Presse nach einer organisierten Seenotrettung an der Küste mit sturmtauglichen Booten bald verhallten und weiteren Unglücken Vorschub leisteten. Erst nachdem am 10. 9. 1860 vor Borkum die hannoversche Brigg „Alliance“ strandete und neun Seeleute ertranken – abermals, weil die Insulaner keine Rettungsboote hatten –, gründete man 1861 den „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger an der ostfriesischen Küste“ und 1863 den „Bremischen Verein zur Rettung Schiffbrüchiger“. Die übergeordnete nationale „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ entstand schließlich 1865 in Kiel.

Das alles scheint lange her. Wenn man aber auf den Auslöser blickt, die ertrunkenen Auswanderer bzw. „Bootsflüchtlinge“, dann spürt man: Die Geschichte der „Johanne“ ist nicht vergangen. Sie ist hoch aktuell.

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