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Die Grenzen der Freiheit

Kurz nach der Uraufführung ist Ferdinand von Schirachs „Gott“ in Oldenburg zu sehen. Peter Hailer inszeniert das Sterbehilfe-Drama atmosphärisch unterkühlt und debattenarm

Von Jens Fischer

Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland rund 10.000 Menschen das Leben, das sind doppelt so viele wie durch Autos, Drogen, Morde und an Aids sterben. Handelt es sich dabei um gesellschaftliches Versagen oder gar um persönliche Schuld? „Ich will sterben, und das ist nicht amoralisch, egoistisch oder krank“, sagt Richard Gärtner in Ferdinand von Schirachs Theaterstück, Film und Buch des Titels „Gott“.

Mit sich und dem Nichts allein fühlt sich dieses 78-jährige Musterbeispiel eines Lebensmüden, der in der Produktion des Staatstheaters Oldenburg von Winfried Küppers gespielt wird. Deutlich macht er, dass dieser Gärtner zwar an üblichen Zipperlein des Seniorendaseins leidet, aber ansonsten kerngesund ist. Seit dem Tod seiner Frau bedeutet ihm allerdings das Leben nichts mehr, interessieren ihn auch seine Kinder und Enkel kaum noch. „Und ich will nicht irgendwann ins Krankenhaus, ich will nicht an Schläuchen hängen, ich will nicht aus dem Mund sabbern, und ich will nicht dement werden. Ich will als ordentlicher Mensch sterben, so wie ich gelebt habe.“

Sein Wunsch sei ernsthaft, von Dauer und nicht von Dritten beeinflusst, sagt er, und beantragt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital. Damit schlafe eine „Person innerhalb von zwei bis fünf Minuten ein und wird bewusstlos“, heißt es in einer Mitteilung des Bundestages über „Medikamente zur Selbsttötung“ (Juni 2020). Die Substanz „lähmt das Atemzentrum, der Tod tritt durch Atemstillstand ein“. Aber darf ein Arzt es Herrn Gärtner zur Selbstmedikation zur Verfügung stellen?

Juristisch kommt Ferdinand von Schirach mit dieser Frage zu spät, kann aber an eine aktuelle Entwicklung anknüpfen. Aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen etwa durch eine Spritze, ist und bleibt in Deutschland verboten. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar diesen Jahres erstmals den ­assistierten Suizid grundsätzlich erlaubt. In dem Urteil heißt es: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. „Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ Dabei sei erlaubt, bei Dritten Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Staat hat das nun noch gesetzlich auszuformulieren, Bedenkfristen und Beratungspflichten zu definieren.

Das Urteil hat viele Menschen verschreckt. Die großen Religionsgemeinschaften bestreiten ein Recht auf Selbsttötung und in der Öffentlichkeit ist das Thema eher tabuisiert. Daher hat von Schirach die Pro- und Contra-Argumente brav zusammengetragen, auf typisierte Vertreter der jeweiligen Position verteilt und eine Anhörung vor einem Ethikrat dezent dramatisiert, dessen Rolle das Publikum zu spielen hat: also das Anliegen von Herrn Gärtner moralisch bewerten soll.

Eine ungemütliche Debatte

Auf auf der grell ausgeleuchteten Bühne bleibt es ungemütlich: Ein paar Stuckzitate auf der Rückwand, davor schäbige Stühle fürs Fachpersonal. Die Moderatorin (Nientje C. Schwabe) führt mit freundlichem Zynismus durch den Abend. Herr Gärtner steht schwerst verkrampft neben ihr, bodenblickend, die Lippen aufeinander gepresst – und erklärt höchst unwillig seinen Fall und seine Not. „Einfach traurig“ sei sein Patient, sagt ein befreundeter Augenarzt und weigert sich, als Sterbehelfer dienlich zu werden. Unbehaglich vor sich hingrummelnd verfolgt Gärtner fortan die Debatte. Nur einen emotionalen Ausbruch bekommt er spendiert, wenn Professor Sperling (Klaas Schramm) aus dem Präsidium der Bundesärztekammer einen Ausbau der Palliativmedizin fordert und betont, Ärzte wollten Leben retten, Hilfe leisten im und beim Sterben, aber nicht zum Sterben. Es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, verzweifelten Menschen Hoffnung zu geben, und keine ärztliche, sie zu töten.

Während die Inszenierung unübersehbar für das Recht auf Selbsttötung plädiert, stimmt immerhin die Hälfte des Oldenburger Publikums dagegen

Ein Priester (Matthias Kleinert) legt im Predigertonfall nach, das Leben sei Dank der Ursünde nun mal Leiden, das gelte es auszuhalten, bis der katholische Gott den Menschen zu sich hole. Was die beiden Sachverständigen verbindet: Sie argumentieren aus einer Ideologie heraus, kommen also innerhalb des ärztlichen und christlichen Selbstverständnisses zum Schluss, Herr Gärtners Wunsch, sein Leben zu beenden, sei nicht zu unterstützen.

Das Bundesverfassungsgericht, Gott der deutschen Justiz, sagt aber, aus Glaubensvorstellungen oder dem Ethos eines Berufsstandes abgeleitete Werte dürften nicht die Maßgabe des Rechts sein – das müsse schließlich für alle gelten. Relevant sei in diesem Fall nur die Auslegung des Grundgesetzes, in diesem Fall das aus Artikel 1 und 2 abgeleitete Persönlichkeitsrecht. Aber genau das ist auch systemimmanentes Denken. Ein Urteil wird nach relativen Kriterien gefällt, die in diesem Fall der Realitätsblase der Justiz entstammen – leider ist das nicht Thema der Verhandlung.

Auch sonst verbeugt sich die Oldenburger Inszenierung von Peter Hailer demutsvoll vor dem Text. Dass von Schirach den Sterbehilfekritikern auf der Bühne keine Chance gibt, sondern von Gärtners Anwältin (Anke Stedingk) vorführen, ja, lächerlich machen lässt, reproduziert die Aufführung unkritisch. Sie gönnt der Advokatin als einziger Figur ein paar zündende Pointen. Eine spannend austarierte Debatte entsteht also nicht. Dass theatral Lebensfunken aus den Konfrontationen geschlagen werden, kann leider ebenfalls nicht behauptet werden. Vorträge und Gespräche nach Art eines Verhörs reihen sich zur Meinungsbildung aneinander. Einer spricht, alle anderen lauschen meist regungslos. Eine blutleere Situation. Bleicher Realismus. Jede TV-Talkshow ist dagegen ein Vitalitätsfeuerwerk. Positiv gewendet könnte man sagen: Hailer bringt die dröge Vorlage kongenial auf die Bühne.

Erfreulicherweise lässt sich das Publikum nicht zu Abstimmungsmarionetten degradieren. „Halten Sie es für richtig, dass Herr Gärtner Pentobarbital bekommt, um sich töten zu können?“, lautet die finale Frage. Während die Inszenierung eindeutig für die Freiheit auf Selbstmord plädiert, votierten in Oldenburg von den insgesamt 198 Besuchern der ersten beiden Vorstellungen 102 mit Ja. Am Altonaer Theater, wo Axel Schneider inszenierte, und am Mindener Stadttheater, wo eine Produktion unter der Regie von Miraz Bezar zu sehen war, stimmten etwa zwei Drittel der Verabreichung des tödlichen Wirkstoffs unter professioneller Begleitung zu. Bundesweit sind nach 24 Aufführungen an sechs Bühnen 55 Prozent Ja-Stimmen gezählt worden. An 14 deutschen Theatern feiert „Gott“ in dieser Saison Premiere.

„Gott“: wieder am 17., 23. und 29. 10., 19.30 Uhr, Staatstheater Oldenburg

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