: Geflüchtete fordern ihre Evakuierung
Seit Tagen harren Tausende obdachlose Geflüchtete ohne Versorgung auf Lesbos aus. Das griechische Militär errichtet ein provisorisches Zeltlager
Mare Liberum, NGO
Aus Berlin Christian Jakob
Über 10.000 Menschen mussten auf der Insel Lesbos die fünfte Nacht im Freien verbringen, weitgehend ohne Versorgung. ReporterInnen berichten, wie Tausende Insassen des am Dienstag abgebrannten Lagers Moria ohne ausreichendes Wasser und Essen auf der Straße ausharren. Die Polizei behindere Presse und Hilfsorganisationen.
Auch am Sonntag demonstrierten Hunderte Flüchtlinge an der Straßensperre nahe der Inselhauptstadt Mytilini für eine Evakuierung auf das Festland. Auf Transparenten stand: „Europa, rette uns“.
Bei Protesten am Samstag hatte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas gegen sie eingesetzt. Beobachter verschiedener NGOs sprachen von einer totalen Eskalation der Gewalt. „Die meisten haben seit drei Tagen nicht gegessen und sind völlig dehydriert, Kinder brechen vor Erschöpfung zusammen“, berichtete die NGO Mare Liberum. DemonstrantInnen wurden mit Atemwegsproblemen ins Krankenhaus gebracht.
Am Freitag hatte das Militär begonnen, ein provisorisches Zeltlager auf einem ehemaligen Übungsgelände zwischen dem Lager Moria und der Inselhauptstadt zu errichten. Die offiziellen Angaben über die geplante Kapazität sind widersprüchlich: Teils ist von 3.000 Plätzen die Rede, teils davon, dass alle der über 10.000 obdachlosen Flüchtlinge dort untergebracht werden. Das Lager soll verschiedenen Medienberichten zufolge geschlossen sein – wer dort einmal untergebracht ist, soll vorerst nicht wieder hinausdürfen.
Viele der Geflüchteten wollen nicht mehr auf Lesbos bleiben und verweigern den Gang in das neue Lager. „In Moria konnten wir bis zum Lockdown im März wenigstens raus, das neue Lager aber wird zu einem Gefängnis“, sagte die Kongolesin Zola, die seit Dienstag mit ihrem Baby an der Straße zum Hafen von Mytilini schläft.
Michalis Chrysochoidis, Minister für Bürgerschutz, warnte am Sonntag: Wer darauf hoffe, von der Insel gebracht zu werden, und sich deshalb weigere, sich in dem neuen Lager unterbringen und dort auf Corona testen zu lassen, für den werde es Sanktionen geben. Aktivisten auf Lesbos äußerten derweil den Verdacht, dass die Versorgung auf der Straße deshalb so eklatant unzureichend sei, damit die Menschen ihren Widerstand gegen die Unterbringung im neuen Lager aufgeben.
Bis Sonntag zogen etwa 300 Menschen in das neue Zeltlager ein. Sie und etwa 700 weitere wurden einem Coronaschnelltest unterzogen, sieben Tests fielen positiv aus. Die Betroffenen wurden in einem Isolationstrakt des neuen Lagers untergebracht. Nach Einschätzung von Einwanderungsminister Notis Mitarachi könnten sich inzwischen bis zu 200 Asylsuchende auf Lesbos mit Covid-19 angesteckt haben.
Mitte der Woche hatte eine Fähre mit Platz für bis zu 1.000 Menschen im Westen von Lesbos angelegt. Bis zum Sonntag brachten die Behörden dort jedoch niemanden unter. Die Polizei verlegte indessen weitere Kräfte nach Lesbos. Sonntag früh kamen fünf Spezialeinheiten mit Panzerfahrzeugen mit der Fähre aus Kavala auf der Insel an.
Unklar ist, ob die Flüchtlinge dauerhaft in dem neuen Lager interniert werden sollen. Die Behörden sprachen am Sonntag von einer begrenzten Ausgangssperre, mit der sie eine Verbreitung des Coronavirus auf der Insel verhindern wollen. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sprach von einem „explosiven Mix“ aus Pandemie und Flüchtlingskrise. Er bekräfigte am Samstag in Thessaloniki, dass die Regierung auf Lesbos ein neues „geschlossenes Lager“ errichten werde. Gegen diese schon vor dem Brand bekannt gewordenen Pläne gibt es heftigen Widerstand der Inselbevölkerung. Die Armee wurde auch am Wochenende während des Baus des neuen Zeltlagers durch Proteste behindert. Einige Anwohner hielten die Bulldozer der Bautrupps mit Straßensperren auf. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnte am Samstag vor „wachsenden Spannungen zwischen Anwohnern, Asylsuchenden und der Polizei“.
Eigentlich sollten am Montag die Schulen auf Lesbos wieder öffnen. Wegen der erhöhten Coronagefahr bleiben diese nun vorerst geschlossen. Unterdessen schaltete sich UN-Generalsekretär Antonio Guterres ein. Er begrüßte die EU-Initiative, etwa 400 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. „Ich glaube, wir sollten noch weitergehen. Wir können ein Land an der Grenze nicht bitten, alles zu lösen“, sagte Guterres. Die einzige Lösung sei aus seiner Sicht „die Verlegung von Flüchtlingen auf den Kontinent, und ich hoffe, dass es europäische Solidarität gibt“.
Auch Papst Franziskus rief Europa zum Handeln auf. Er erinnerte am Sonntag in Rom an seinen Besuch auf der griechischen Insel Lesbos 2016 und seinen damaligen Appell für eine „menschenwürdige Aufnahme der Frauen und Männer, der Migranten und Flüchtlinge, derjenigen, die Asyl in Europa suchen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen