: Zwölf Leben
Was geschah in dem kleinen NS-Lager in Oberösterreich? Ludwig Laher hat die Biografien von Tätern und Opfern untersucht
Ludwig Laher: „Schauplatzwunden. Über zwölf ungewollt verknüpfte Leben“. Czernin Verlag, Wien 2020, 192 Seiten, 20 Euro
Von Patrick Guyton
Bis Ende der 1980er Jahre wusste oder wollte man im oberösterreichischen St. Pantaleon nicht sehr viel mehr wissen, als dass es da zeitweise ein kleines NS-Lager gab.
Dann zog der Schriftsteller Ludwig Laher von Salzburg in die 3.000-Einwohner-Gemeinde und der Wissensstand schnellte nach oben. Ludwig Laher, 64 Jahre alt, hat jetzt sein zweites Buch über das „Arbeitserziehungs- und Zigeuneranhaltelager“ St. Pantaleon-Weyer veröffentlicht.
In „Schauplatzwunden“ werden zwölf Menschen in zwölf Abschnitten beschrieben, die mit dem Lager zu tun hatten. Opfer und Täter: Nationalsozialistischer Terror auf dem Land, in dem „abgelegenen Fleckchen im Innviertel“.
Da ist etwa der verlobte Eisenbahner Alois Auleitner, der im Krieg zum Gleisbau nach Lothringen versetzt wurde. Verbotenerweise fuhr er zurück in die Heimat, kam als „Asozialer“ in das Lager, musste dann Soldat werden und fiel kurz vor Ende des NS-Regimes.
Da ist der Landwirt Ludwig Steffl, der in dem Lager so schwer misshandelt wurde, dass er nach seiner Entlassung bettlägerig war und kurz darauf starb. Oder Rudolf Haas, der das kürzeste Leben der Lagerinsassen hatte – geboren am 8. April 1941, gestorben am 5. Mai desselben Jahres. Rudolf starb an Lungenentzündung, die sich ausgebreitet hatte. Offizielle Todesursache war „Lebensschwäche“.
Laher hat in unzähligen Quellen recherchiert, hat viele Gespräche geführt mit Augenzeugen, Nachkommen, auch NS-Tätern. Und Laher nennt fast alle Namen. Die Abfolge der Porträts ist alphabetisch gegliedert, was sehr gut funktioniert – sind doch die Schicksale durch den Ort und dieselben Personen wie Lagerleiter oder -arzt miteinander verwoben.
Den Lagerkomplex gab es insgesamt eineinhalb Jahre. Alle internierten Sinti, so ist anzunehmen, wurden danach in die Vernichtungslager geschickt und ermordet. Doch in St. Pantaleon-Weyer zogen sie sich an einem Tag ihre Festtagskleidung an, weil ein Fotograf kam. Gerade solche Details sind sehr eindrücklich, das Lesen schmerzt.
Die Schergen beschreibt Laher in ihrer dumpfen Brutalität. Etwa den Lagerverwalter Gottfried Hamberger, dessen Tätigkeit bestimmt ist von Korruption, dem Ausleben von Sadismus und immer viel Alkohol. Aus Scherz weckte dieser nachts den Häftling Edmund Heller mit dem Befehl, er solle sich jetzt aufhängen. Heller, ein promovierter Germanist, der immer auf der Suche „nach dem Verschütteten“ gewesen sei, stirbt letztlich im KZ Dachau.
All das mag auf der Skala der NS-Gräueltaten nichts Besonderes gewesen sein. Aber die Berichte erzeugen mit ihren vielen Einzelheiten eine ganz dichte Stimmung von Ohnmacht und Angst. Ludwig Lahers Absicht ist es dabei, so schreibt er, diese zwölf Menschen „in eine zeitlose Gegenwart zurückzuholen“. Das ist ihm mit dem Buch gelungen.
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen