: Die Drei vom Klinikum Hölle
Mit „Wir haben getan, was wir konnten“ zeigt Regisseur und Mediziner Tuğsal Moğul am Hamburger Schauspielhaus eine Parade der schlimmsten Medizinverbrecher. Das fällt als Gesellschaftskritik zwar etwas eindimensional aus, als Theater aber umso effektvoller
Von Jens Fischer
Hellwach, mörderisch motiviert und adrenalinös hochgepegelt tobt das Personal auf die Bühne: Einsatzbesprechung zur nächsten Schicht auf der Intensivstation. Eine Patientin habe sich alle Kanülen gezogen, heißt es in der Übergabe, und das „Gefäßwrack“ (eine Starkraucherin) sei „immer noch nicht weg“, lebt also noch. Das Team ist sofort bereit, sich mit antidepressivem Zynismus die tägliche Dosis Überforderung zu geben. Prompt steht die erste Reanimation an. Wie Superhelden feiern sich die Pfleger dabei. „Respice finem“ stand anfangs zu ihren Füßen, auf den Boden gestreut mit blutrotem Granulat. Aber diese Aufforderung zu zielorientiert klugem Handeln wird alsbald zu einem Mahnmalhaufen weggefegt. Und schnell mal erwähnt, man sei permanent unterbesetzt, könne sich nicht mehr austauschen, kriege die Bilder vom Sterben nicht mehr aus dem Kopf.
Die einen verbrennen dabei, weil sie für ihren Beruf brennen, andere genießen die Macht über Leben und Tod auf perverse Art. Das Krankenhaus als Mikrokosmos der Gesellschaft, in dem beispielhaft einige ihrer Fehlentwicklungen sichtbar werden, damit beschäftigt sich Tuğsal Moğul. Nach Stücken wie „Halbstarke Halbgötter“ (2008, Theater im Pumpenhaus Münster), „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt“ (2012, Theater an der Glocksee, Hannover) und „Das Summen der Montagswürmer“ (2013, Ballhaus Naunynstraße, Berlin) kam nun ohne große Corona-Implikation im Hamburger Malersaal „Wir haben getan, was wir konnten“ zur Uraufführung.
Der Satz, den ihrem hippokratischen Eid verpflichtete Ärzte mit demütiger Geste aussprechen, wenn sie den Kampf um das Leben eines Patienten verloren haben, ist nach Moğuls Sicht des medizinischen Alltags nicht mehr als eine höhnische Phrase. Anstatt das Thema Krankheit nicht den Gesundheitspolitikern und -ökonomen zu überlassen, verhandelt er die Missstände lieber selbst im Theater. Immerhin kann der regieführende Dramatiker dabei aus der Binnenperspektive berichten, ist er doch approbierter Arzt und als Anästhesist tätig.
Das Medium Dokumentartheater nutzt er weniger, um mit analytischem Blick die Not und das Elend der Klinikmitarbeiter und Patienten zu durchdringen – sondern setzt vielmehr auf Überwältigung, indem er drei extreme Auswüchse des Systems aneinanderreiht. Etwa die Geschichte einer Frau, die mit panischen Blicken den Ärzten beim Herumfuhrwerken in ihren Innereien und sich beim Verbluten zusehen muss, weil vergessen wurde, sie zu narkotisieren.
Der Auswuchs schlechthin ist Ex-Krankenpfleger Niels Högel, der in Kliniken Oldenburgs und Delmenhorsts mindestens 85 Menschen ermordet hat. Nicht weil er sich zum Serienkiller berufen fühlte, sondern von der Lust besessen war, Patienten an den Rand des Todes zu spritzen, um sie dann wiederzubeleben und sich dafür loben zu lassen. Aber es hat halt nicht immer geklappt, daher die Massenmordserie. Christoph Jöde spielt Högel als zurückgenommen Narzissten, betont die erschreckende Normalität eines großen Jungen, der besondere Kicks braucht und selbst überrascht ist, wie Kollegen wegschauen und Vorgesetzte ihn gewähren lassen. Ein gewisser Korpsgeist mag da eine Rolle spielen wie auch der ständige Stress im Dienst und die Angst vor den Folgen, etwa den Ruf der Klinik zu beschädigen. Was all das für die Angehörigen der Opfer bedeutet, legt Ute Hannig in einem resignierten Empörungsmonolog dar.
Einsam vor sich hinbrütend gibt Hannig auch die Krankenschwester Irene Becker, die in der Berliner Charité Menschen erlöste, wie sie sagt, etwa einen an Alzheimer, Parkinson und den Folgen eines Herzinfarkts leidenden Mann geradezu aus Mitgefühl mit überdosierten Medikamenten tötete. Nicht als Mörderin sieht sie sich, „eher so als Sünderin“. Dritter im Trio infernale ist der Bottroper Apotheker Peter Stadtmann, Yorck Dippe setzt sich in dieser Rolle selbstverliebt in einen Märchenonkelthron und erzählt ohne Andeutung von Scham, wie er Krebspatienten mit unterdosierten Injektionen versorgte, aber volldosierte berechnete und so Millionen verdiente.
Högel und Becker sind inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt, Stadtmann zu zwölf Jahren Gefängnis. Um diese medial ja schon reichlich durchgearbeiteten Fälle nicht nur als Selbstdarstellungsmonologe aufzublättern, gibt es noch zwei Theatereffekte obendrauf. Ausstatterin Ariane Salzbrunn schmückt die Ärzte, Pfleger, Apotheker in ihrer weißen Zunftkleidung mit lumpigen Resten pompöser Barockkostüme. Gebärden sich alle doch ein wenig wie Sonnenkönige in ihren Medizin-Palästen. Die Schauspieler sind famos, nicht nur ihre Jonglagen mit dem Fachjargon, auch wie sie aus dem Text Menschenbilder entwickeln statt Monster der Psychopathologie. Zwischen den Szenen gönnt Moğul dem Ensemble, barocke Klagegesänge anzustimmen. Wie leise weinende Countertenöre schütten sie ihr Herz aus. Auch fängt das live musizierende Cembalo-Kontrabass-Geige-Trio die kalte Ungeheuerlichkeit des Geschilderten immer wieder auf.
Final lässt Moğul noch eine „Geschäftsführerin“ auftreten, die zu behandelnde Krankheiten nach gewinnbringenden Leistungen selektieren will. Zunehmend werden, so die Grundübel-These des Abends, die Kliniken und damit auch die Patienten in fahrlässiger Weise den Gesetzen des freien Marktes überlassen, sodass nicht mehr die beste Versorgung praktiziert wird, sondern nur die betriebswirtschaftlich optimale Behandlung.
Unterm Effizienzdiktat leiden ja zunehmend auch Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft, von denen es in Deutschland inzwischen weniger gibt als privatwirtschaftlich geführte Häuser, da sich finanziell marode Kommunen zum Verkauf an die Klinikkonzerne genötigt sehen, die offensiv gewinnorientiert arbeiten. Also Stellen wegsparen, Liegezeiten und Behandlungsmethoden nach Gewinnerwartung festsetzen, statt nach Patientenwohl.
Wenn Moğul nun aber sein Stück übers deutsche Gesundheitssystem auf die drei genannten Fälle zuspitzt, ist die inhaltliche Diagnose kaum mehr als die Aufschrift eines Demonstrationsplakats: Kapitalismus tötet. Letztlich ja auch nicht komplett falsch, aber eben überreichlich plakativ. Und wirkungseffektiv. Wer bisher schon Unwohlsein bei der Vorstellung empfindet, in einer Notlage mal in ein Klinikum eingewiesen zu werden, wird nach dem Besuch der Aufführung pure Angst davor haben.
„Wir haben getan, was wir konnten“: 4., 5. und 6. 10., 20 Uhr, Schauspielhaus Hamburg, Malersaal
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