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: Nächtlicher Astronautenbesuch

Am Tag nach der Abschiedsfeier ihrer Kita klagt meine Tochter über Kopfschmerzen. Als sie zu husten beginnt, über Halsschmerzen klagt und ihren Lieblingssaft verschmäht, weil sie meint, er rieche nach Urin und schmecke abscheulich, fange ich an, mir Sorgen zu machen. Ich messe Fieber: 39,8 Grad. Normalerweise würde ich sie einen Infekt einfach auskurieren lassen. Aber in Anbetracht ihres veränderten Geschmacks- und Geruchssinns schrillen bei mir alle Alarmglocken. Als auch ihre Augen anschwellen und sie Trinken ablehnt, rufe ich den kassenärztlichen Notdienst an und schildere ihre Symptome. Der Mann am anderen Ende der Leitung meint: „Wenn ihre Tochter gestern an einer Feier teilgenommen hat, ist es das Beste, wir lassen einen Corona-Abstrich machen. Ich versuche einen Arzt vorbeizuschicken.“

Stunden später klingelt mein Handy: „Was gibt’s?“ Ich schildere erneut die Symptome.

Der Arzt fragt: „Und Sie machen sich Sorgen?“

Ich stammele irritiert: „Meine Tochter hat hohes Fieber und Schmerzen. Natürlich mache ich mir da Sorgen!“

Er meint: „Na gut, dann lasse ich das Kind ins Krankenhaus bringen!“

Ich rufe: „Nein, das möchte ich nicht!“ Und erkläre: „Ich habe eher angerufen, weil meine Tochter gestern an einer Feier teilgenommen hat und ich aus Verantwortung den anderen Eltern gegenüber …“

Er fällt mir ins Wort und erklärt kühl: „Ich bin kein Kinderarzt. Sie haben eben laut und deutlich gesagt, dass Sie sich Sorgen machen. Das ist für mich dann ein Fall fürs Krankenhaus!“

Ich versuche zu diskutieren. Sage, dass meine Tochter erst seit ein paar Stunden Symptome habe und man erst mal abwarten sollte. Er aber meint: „Mein Fahrer hat Sie eben über Lautsprecher gehört. Da gibt’s jetzt kein Zurück. Ich informiere die Zentrale.“

Aufgelöst suche ich Schlafsachen zusammen, als mein Handy erneut klingelt: „Die Zentrale besteht darauf, dass ich zu Ihnen komme. Ich finde das verantwortungslos und werde dagegen nachträglich auch vorgehen. Das garantiere ich Ihnen. Aber ich ziehe jetzt einen Schutzanzug an und fahre los. Wir sehen uns gleich!“

Zur Vorwarnung zeige ich meiner Tochter ein Bild von einem Covid-Schutzanzug und ein Video, wie ein Covid-19-Abstrich gemacht wird. Sie reißt panisch die Augen auf: „Eine Nadel im Mund?“

Ich versuche sie zu beruhigen: „Das war ein Stab. Der Arzt, der gleich zu uns kommt, steckt dir nur kurz einen Stab in den Mund.“ Meine Tochter schreit: „Nein! Bestell ihn ab!“

Da klingelt es auch schon. Ich rufe gespielt locker: „Unser As­tronautenbesuch ist da!“, und bedeute dem Arzt, ins Kinderzimmer durchzugehen. Er bleibt in seinem Plastikanzug im Türrahmen stehen und starrt meine Tochter von Weitem an: „Dir geht’s nicht gut, ja?“ Dann zückt er einen Pulsmesser und einen Stab und ruft mit Blick auf die Armbanduhr: „Du musst schon zu mir kommen, ich krieche nicht zu dir in dein Bett!“

Meine Tochter schüttelt matt den Kopf. Mein Freund und ich reden über zehn Minuten auf sie ein, den Test über sich ergehen zu lassen. Am Ende dauert der Abstrich gerade mal drei Sekunden. Während meine Tochter aufatmet, erklärt der Arzt: „Ich ziehe mich jetzt um und bringe Ihnen dann den Kittel zur Entsorgung.“ Und nach einer kurzen Pause: „Ach ja, Sie dürfen die Wohnung nicht verlassen, ehe das Ergebnis vorliegt. Das kann jetzt ein paar Tage dauern.“ Am nächsten Morgen wacht meine Tochter auf und meint gähnend: „Na, das war ja was gestern.“ Und fragt dann fidel: „Und was machen wir heute?“

Ich messe ihre Temperatur. Sie ist fieberfrei und hat auch sonst keine Beschwerden mehr.

Eva-Lena Lörzer