Die Namenlosigkeit im Asylsystem: Wie in der Hölle

Du bist zuerst Migrant, dann Kind, Frau, Mann. Dann bekommst du einen Vornamen, vielleicht einen Nachnamen. Der Preis dafür ist hoch.

Eine Frau im Dunkeln

Namenslos, aber natürlich auch nicht. Eine Person auf Lesbos nach dem Brand im Camp Moria Foto: Elias Marcou/Reuters

Wir beginnen mit einem Namen. Meine Großmutter hatte keinen. Meine Mutter hat einen, den die deutsche Sprache regelmäßig massakriert. Ich habe einen, der ausgewählt wurde, um es der Mehrheit leicht zu machen, und dadurch auch mir. Aber ich habe einen Namen nach dem ich gefragt werde. Auf ein: Wer bist du?, kann ich antworten: Ich bin Lin, und jemand kennt dann trotzdem erst drei Buchstaben von mir, den Bodensatz meiner Existenz.

Dass meine Großmutter keinen Namen hatte, stimmt nicht ganz. Sie hatte einen, aber er wurde so selten benutzt, sogar ihre Kinder grübeln kurz, wenn ich nach ihm frage. Großmutter wurde immer im Verhältnis zu den Menschen um sie herum benannt, das war der Inhalt ihrer Existenz. Sie war mama, a’bu, bu.

Was steckt in einem Namen, den wir selbst mit Bedeutung füllen können? Alles. Ich heiße, also bin ich. Während wir den einen sagen: Du kannst alles sein, was du willst, gestehen wir den anderen nicht einmal Menschsein zu.

Wie nennen wir die anderen? Migrantenkinder. Flüchtlingskinder. Ankerkinder. Darin steht zuerst der Marker für die Gruppenzugehörigkeit, dann der Mensch. Zuerst: Migrant. Flüchtling. Anker. Zuletzt: Kind. Diese Namen haben Funktion und Effekt. Wir wissen alles über ihre Träger:innen, legen Gesichter und Geschichten übereinander. Sie sind viele, sie sind Zahlen, zu verwalten, zu verrechnen, zu normieren, zu lösen.

Der Preis ist hoch

Du bist zuerst Migrant, dann Kind, Frau, Mann. Dann bekommst du einen Vornamen, vielleicht einen Nachnamen. Der Preis dafür ist hoch. Du musst tränentreibendes Leid erfahren, vor Weihnachten trendet Nächstenliebe. Oder du musst sterben, damit wir deinen vollen Namen kennen. Kennen Sie noch Alan Kurdi?

Als ich meine Muttersprache lernte, schrieb ich die Schriftzeichen für Deutschland in quadratische Kästchen. Deutschland ist das Zeichen für Tugend plus das Zeichen für Land. Déguo, Land der Tugend. In Tugend liegen Moral und Integrität. Wie nennen wir etwas, das seinem Namen nicht gerecht wird? Enttäuschung, Täuschung, Lüge, vielleicht.

Wie nennen wir Moria? Menschenunwürdig. Das sagt sich so dahin, weil die Menschen dort längst nicht mehr Menschen genannt werden. Sie haben keine Namen, außer denen, die wir ihnen zugestehen. Wir fragen nicht, wer sie sind, wir verhandeln, ob sie sein dürfen. Diese Namenlosigkeit ist kein Nebeneffekt von Migration, nicht die Natur der Sache. Sie ist Teil eines Systems, das unseren Komfort über ihr Leben stellt. Weil es anders nicht auszuhalten wäre – für uns.

Moria ist abgebrannt. Migranten ertrinken im Mittelmeer. In diese Sätze schreibt niemand Verantwortung hinein und das ist Absicht. Menschen ertrinken, weil Europa sie ertrinken lässt. Moria ist abgebrannt, weil Europa dort Menschen hält, wie in der Hölle. Wie nennen wir jemanden, der vorsätzlich Leben nimmt?

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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