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Aus der Vorhölle eines Callcenters

Auf Euripides und Stefanie Sargnagel geht das Stück „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland“ in der Volksbühne zurück. Mit einer rein weiblichen Besetzung verhandelt es Sinn und Unsinn des Frauenopfers

Von René Hamann

Was ist ein Mash-up? Nüchtern betrachtet ein Kulturprodukt, das aus der radikalen Mischung zweier voneinander gänzlich unabhängiger Kulturprodukte entstanden ist. Man kennt den Ausdruck aus der Musik: Im Pop ist ein Mash-up ein Bastard aus zwei mutwillig ineinandergemixten Stücken, sagen wir Madonna singt „Like a Virgin“ auf den Instrumentalhintergrund von „Sexy MF“ von Prince.

Wie ein Mash-up kommt auch „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland“ nach Euripides und Stefanie Sargnagel daher. Das Stück in der Regie von Lucia Bihler fand am Freitag seine Premiere, natürlich unter Hygeniebedingungen, in der luftig besuchten Volksbühne. Schon jetzt, das kann man vorwegschicken, ist es eins der Stücke der Saison.

Es geht um das alte bekannte Drama: Iphigenie will Achilleus ehelichen und kündigt ihre Rückkehr nach Hause an. Dabei soll sie, das stellt sich nach und nach heraus, gar nicht heiraten, sondern im Gegenteil: geopfert werden. Ausgerechnet Agamemnon, ihr Vater, will sie töten lassen – um das griechische Heer siegreich nach Troja zu führen. Ein Deal mit den Göttern, insbesondere mit Helena. Während bei Mutter Klytaimnestra das Wehklagen groß ist, will sich Iphigenie dem Opfer stellen.

Die Vorlage ist tatsächlich die antike, „Iphigenie in Aulis“ von Euripides. Während man noch überlegt, was dieser alte Scheiß überhaupt soll, erschließt sich das Stück nach und nach auf mehreren Ebenen – und wird sogar ganz geil. Klassische Dramatik! Bis es sich urplötzlich in ganz was anderes verwandelt (und auch nicht).

Dabei bestechen das Bühnenbild von Jana Wassong, das aus einem einsehbaren Rundturm aus hellem Holz besteht, und die wirklich fabelhaften Kostüme von Leonie Falke. Die Darstellung der griechischen Figuren als Gehörnte, als Menschen mit stierischen Eigenschaften, die vor Wut und Ungeduld mit den Hufen scharren, ist eine vortreffliche Idee; die Umsetzung der antiken Bildwelt in etwas halbironisch Faschistoides, das gleichzeitig an die vollironische Sargnagel-Idee der „Burschenschaft Hysteria“ erinnert, ist vollauf gelungen.

Die Schauspielerinnen – eine rein weibliche Besetzung! Auch ein Effekt, der nicht nur einleuchtet, sondern leuchtet: Die Schauspielerinnen meistern das antike Drama, das nur in wenigen Momenten aufgepeppt wird („Helena, die Fotze!“, Agamemnon und sein Bruder Menelaos spielen Fußball mit einem zerknüllten Brief), so gut, dass trotz des klassischen Stoffes nie der Verdacht einer Schulaufführung aufkommt. Herausheben möchte man hier keine, denn alle Rollen sind gut besetzt, jede besticht durch ihren Typus. Und doch fällt eine auf, die kennt man doch irgendwoher: Richtig, Jella Haase, bekannt aus „Fack ju Göhte“ und „Berlin Alexanderplatz“, die sich die Rolle des Dieners Hekate mit Amal Keller teilt.

Herausheben möchte man keine, denn alle Rollen sind gut besetzt

Eine gute Stunde geht das schließlich so. Auch wenn die Frage nie so wirklich geklärt wird, warum ein Bauern- beziehungsweise eben Frauenopfer das griechische Heer zum Sieg über Troja führen soll, versinkt man in dem Königsdrama um Heil der Nation, Familie, Götterwelt und Frauenfrage, bis die quirlige Iphigenie (zuerst: Vanessa Loibl) mit ihrem Vater Agamemnon (Susanne Wolf) ins Wasser geht, nämlich in einen flachen Pool auf der Rückseite des Turms, und das Stück einen Sprung in eine Vorhölle macht – nämlich in die Vorhölle eines Callcenters. In dieser Zwischenwelt ist die jetzt fünffache Iphigenie gefangen, meditiert über Essen, über Fernseh- und anderen Konsum, über Gewicht, Feminismus, beantwortet absurde Männeranrufe, zählt Lieblingskinderbücher auf und so weiter.

Das ist der Teil also, der sich auf die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel bezieht, die mit „Statusmeldungen“ eben aus einem Callcenter bekannt geworden ist. Dieser Teil wirkt dabei nicht einfach angehängt, der wenn auch gesuchte Bruch bezieht sich vielmehr hier und da direkt, ansonsten abstrakt auf das vorherige Geschehen. Die Inszenierung von Lucia Bihler, Teresa Schergaut (die auch spielt) und Hannah Schünemann (Dramaturgie) erlaubt sich jetzt mehr Freiheiten und diskursive Effekte. Jetzt wird das Stück zu im besten Sinn irgendwas zwischen Pollesch und Fritsch und behauptet sich dennoch rundum als etwas Neues, Eigenes.

Am Schluss schließt sich die Klammer, das Stück endet mit der Himmelfahrt der Iphigenie. Das Mash-up findet zu sich. Es lebe das Matriarchat.

Wieder am 29./30./31. 10 in der Volksbühne

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