Der Generalstreik

Nach dem neuerlichen Fall von Polizeigewalt gegen einen Schwarzen formiert sich eine Boykottbewegung im US-Sport. Es hagelt Spielabsagen in verschiedenen Ligen

„Bin Trainer, aber auch ein schwarzer Mann“: Doc Rivers, Coach der Los Angeles Clippers Foto: dpa

Aus New York Sebastian Moll

Die Milwaukee Bucks hätten nur noch einen Sieg gegen die Orlando Magic gebraucht, um in den Play-offs der US-Basketball-Liga NBA in die zweite Runde vorzudringen, doch als am Mittwochnachmittag amerikanischer Zeit die Sirene für das Ende der Aufwärmzeit durch die Disneyland-Arena in Orlando tönte, verschwanden die Bucks in der Kabine und kamen nicht zurück. Ihre Gegner packten ihre Sachen und ließen sich wieder in ihr Hotel fahren.

Die Weigerung der Bucks, zu ihrem Spiel anzutreten, war ein Vorgang, wie es ihn im amerikanischen Sport bislang noch nie gegeben hatte. Die Athleten streikten aus Protest gegen die Schüsse eines Polizisten auf den Afroamerikaner Jacob Blake im Heimatstaat ihrer Mannschaft, Wisconsin. Anstatt zu spielen, verlangten sie, mit dem obersten Staatsanwalt von Wisconsin zu sprechen. „Wir haben die Nase voll von dem Morden“, erklärte George Hill, der Spielmacher der Bucks, dem Sportsender ESPN.

Die Mannschaftsleitung stellte sich in ihrem Statement voll hinter die Spieler. „Die einzige Art und Weise, Veränderung herbeizuführen, ist, das Scheinwerferlicht auf diese Ungerechtigkeiten zu richten“, hieß es in der Mitteilung. „Und das haben unsere Spieler heute getan.“

Die Spieler der übrigen in den Play-offs verbliebenen Teams schlossen sich schnell den Bucks an, alle anderen Spiele vom Mittwoch in der Bubble – der abgeschirmten Blase, in der das Turnier wegen der Coronapandemie ausgetragen wird – wurden abgesagt. Um 20 Uhr Ortszeit trafen sich die Spieler, um das weitere Vorgehen zu beraten. Bis Mitternacht war nicht bekannt, ob die Play-offs weiter ausgetragen werden.

Die Streikstimmung machte jedoch nicht beim Männerbasketball halt, der sich in den vergangenen Jahren stets dadurch hervorgetan hatte, politische Stellungnahmen nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu fördern. Die Spiele der Frauenliga WNBA wurden genauso abgesagt wie die Spiele der Fußball-Liga MLS. Und kurz nach der Absage des Spiels der Bucks gaben auch deren Baseballkollegen, die Milwaukee Brewers, bekannt, dass sie nicht zu ihrem Spiel gegen Cincinnati auflaufen würden. „Dies ist eine Zeit, in der wir nicht ruhig bleiben dürfen“, sagte der Pitcher der Brewers, Josh Harder. Später am Abend schlossen sich dann die San Diego Padres und die ­Seattle Mariners dem Streik im Baseball an.

Für Kenner des US-Sports war die Entscheidung der Baseballspieler, nicht zu spielen, noch weitaus bemerkenswerter, als der Boykott der Basketballspieler. So twitterte Dave Zirin, der Sportkolumnist der politischen Wochenzeitschrift The Nation: „Dass der Baseball sich anschließt, ist so, als ob ein Stein einen Panzer sprengt.“

Baseball gilt in den USA als eher konservativer, vornehmlich weißer Sport, je­denfalls was das Publikum angeht.

Der Trend zum Streik im Basketball hatte sich bereits in den letzten Tagen abgezeichnet. Die Empörung der Spieler über die Schüsse auf Jacob Blake vor den Augen seiner Kinder war einhellig. Superstar LeBron James von den LA Lakers twitterte am Sonntag: „Wir fordern den Wandel. Ich habe die Nase voll.“

Am Montag hatten einige der Spieler der Milwaukee Bucks begonnen infrage zu stellen, ob sie im Disneyland ihr Turnier abhalten und damit die Massen unterhalten sollten. „Wir hätten nicht hierherkommen sollen“, sagte George Hill von den Bucks. „Wir lenken doch damit nur davon ab, was in diesem Land passiert.“

Basketball: Die Milwaukee Bucks machten den Anfang und traten am Mittwoch aus Protest gegen die erneut massive Polizeigewalt in den USA gegen die Orlando Magic nicht an. Daraufhin wurden auch die NBA-Partien Oklahoma City Thunder gegen Houston Rockets sowie Los Angeles Lakers gegen Portland Trail abgesagt. Die stärkste Frauen-Basketball-Liga der Welt, die WNBA, stellte ebenfalls den Spielbetrieb ein.

Baseball: In der Major League Baseball wurden am Mittwoch drei Begegnungen abgesagt. Die Milwaukee Brewers folgten dem Beispiel des Basketballteams aus der Stadt und boykottierten die Partie gegen die Cincinnati Reds. Anschließend verzichteten die Seattle Mariners (gegen die San Diego Padres) und die Los Angeles Dodgers (gegen die San Francisco Giants) auf ihre Spiele am Mittwoch.

Fußball: In der Major League Soccer fanden fünf der sechs Spiele des Tages nicht statt. Lediglich die Partie zwischen Orlando City und Nashville SC wurde angepfiffen.

Tennis: Die in den USA lebende Japanerin Naomi Osaka, Weltranglisten-Zehnte, schloss sich dem Protest an und verzichtete vor den US Open auf ihr für Donnerstag angesetztes Halbfinale beim Masters in New York. Das kombinierte Damen- und Herrenturnier reagierte mit einer kompletten Unterbrechung und Spielpause bis Freitag.

Der Trainer der Denver Nuggets, Michael Malone, äußerte am Montag eine ähnliche Frustration. „Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas dadurch verändern, dass wir hier auflaufen und ein T-Shirt tragen. Wir müssen dazu bereit sein, wirklich etwas zu opfern.“

Vorangegangen war am Dienstagabend eine emotionale Ansprache von Doc Rivers, dem Trainer der Los Angeles Clippers. „Ich sollte eigentlich nur ein Trainer sein“, sagte er nach dem Sieg seiner Mannschaft gegen die Dallas Mavericks. „Aber ich bin auch ein schwarzer Mann.“

Es müsse aufhören, so Rivers, dessen Vater Polizist war, dass schwarze Väter Angst um ihre Kinder hätten. „Die Republikaner sprechen auf ihrem Parteitag von Angst? Das ist ein Witz. Wir sind es, die Angst haben müssen. Wir lieben unser Land, aber unser Land liebt uns nicht zurück.“

Der Spielerstreik treibt die politischen Proteste amerikanischer Sportler, die vor genau vier Jahren mit der Weigerung Colin Kaepernicks begannen, zur Nationalhymne aufzustehen, noch einen Schritt weiter. Die amerikanischen Profisportler entwickeln sich somit zu einer immer bedeutsameren politischen Kraft im Land. Wie Dave Zirin, der Kommentator der Nation schrieb: „Sie zwingen alle, die politisch sind und Sport hassen, und alle Sportfans, die Politik hassen, sowie alle, die schwarze Sportler lieben, denen aber das Schicksal der Afroamerikaner außerhalb der Arena egal ist, sich zu entscheiden, wo sie stehen.“