berliner szenen: Mehr Dinge kaputt als heile
Mein Fahrrad stirbt. Wir wissen das beide, aber wahrhaben wollten wir es nicht. Jetzt ächzt es gerade die Urbanstraße entlang. Dass ich angerollt komme, hört man schon von Weitem. Schepperndes Schutzblech, lautes Knacken der schwerfällig ratternden Kette, weil am Ritzel zwei Zähne fehlen. Immer mal wieder knalle ich deshalb auf die Fahrradstange. Dann hört man mich auch fluchen. Aua.
Aktuell ganz schlecht: rote Ampeln. Bremsen will ich derzeit eher nicht so gern, denn mein treues Gefährt gewinnt nur durch intensives Abstoßen vom Boden wieder an Tempo. Deshalb überholen mich selbst Menschen auf seltsamen E-Scootern. Was für ein Einschnitt.
Inzwischen sind an meinem Fahrrad deutlich mehr Dinge kaputt als heile. Das habe ich gemeinsam mit dem bärtigen Fahrradschrauber nachgezählt. Eine Reparatur würde mich circa 400 Tacken kosten. Laut dem Experten trotzdem eine lohnende Investition, schließlich, äh, ist der Rahmen nur rostig und sonst ganz gut.
Ich schließe mein Fahrrad ein letztes Mal bei der Arbeit an und schaue traurig auf das verbeulte Schutzblech und den losen Gepäckträger. Das Fahrrad ist ein Kreuzberger Urgestein. Es kam mit meiner ersten Berliner Wohnung und den Worten „Das ist Kollektivgut – und du passt jetzt darauf auf“ zu mir. Als ich nach Friedrichshain umzog, fragte ich, ob ich auch dort auf das Fahrrad aufpassen dürfte. Es wurde bejaht, und zuletzt ratterte das Fahrrad nach einem weiteren Umzug über die Pflastersteine Neuköllns. Viele Euros wurden in dieses Rad investiert. Aber der Verfall ist nicht mehr aufzuhalten. Als mir Freundin E. mit der Erklärung: „Ich ziehe jetzt nach Wuppertal, da fährt man nicht Fahrrad“, ihr Rad überlassen möchte, schlage ich zu. Ein bisschen fühlt es sich nach Verrat an – aber es spart Zeit, Geld und Nerven. Linda Gerner
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