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Archiv-Artikel

Herbstzeitlosenzeit in der Hauptstadt

MORGENGRAUEN Nichts ist anders, obwohl es anders ist – Eindrücke zwischen Kanzleramt und Brandenburger Tor am Morgen nach der Wahl. Eine Reise ins Zentrum

„Berlin ist ein Dreckhaufen“, schimpft der Müllmann. „Weltstadt, ha – die Welt lacht doch über Berlin“

VON WALTRAUD SCHWAB

In der Stunde vor der Morgendämmerung wirken Menschen oft unverpanzert und weich. Zwingt der Tag sie früh auf die Straße, sind sie den anderen Morgengängern zugeneigt, gar verbunden. Auch im großen Berlin, der Hauptstadt, dem Zentrum der Macht. Spricht man sie an, braucht es nur ein paar Atemzüge, um das Leben zu teilen. Da vorne, an der Ampel, ein Mann. Jung. Grazil. Ganz in sich.

Auf dem Weg zur Arbeit ist er, am Morgen nach der Wahl. Zum Grünflächenamt. „Grünflächenamt, das klingt nach Hartz IV?“, sage ich. Da erzählt er, noch schlafwarm, seine Geschichte. Die Schule für ihn – ein Desaster. Der Rest auch. Und diese Arbeit jetzt? „Sie dauert elf Monate, kein Jahr“, erzählt er ohne Entrüstung. Elf Monate, damit er danach kein Arbeitslosengeld bekommt, sondern wieder Hartz IV. Und das Wahlergebnis – ist es ein Sonnenaufgang? Ein Morgengrauen? „Ich denke nicht so“, sagt er. Gewählt hat er die Piratenpartei.

Auf der Rundreise vor der Wahl, auf der die Befindlichkeit der Menschen in allen vier Himmelsrichtungen erkundet wurde, bin ich über Fischer und Möwengeschrei gestolpert, über Fürbittende und Trinker, über Paralleluniversen, Heimatverliebtheit und melancholische Wut. Jetzt kommt die Mitte dran. In Berlin, am Morgen nach der Wahl. Gesucht wird, was die Menschen, die man in der Dämmerung auf dem Weg zum Kanzleramt, Reichstag, Brandenburger Tor trifft, so denken.

Wie der Gerüstbauer. Am Nordufer, dort, wo am Abend zuvor die Sozialdemokraten aus Berlin-Mitte nicht mehr auf die Bildschirme starrten, sondern in sich hinein, schlendert er über die leere Straße. Er führt den Hund aus. Die Wahl, das Ergebnis, Sonnenaufgang, Morgengrauen? „Interessiert mich nicht“, sagt er. Sein Gesicht ist unter der schwachen Laterne kaum zu erkennen.

Der Gerüstbauer steckt in den staubigen Klamotten, mit denen er nachher zur Baustelle geht, der vom Bundesnachrichtendienst. Gerüstbauer – ein harter Job. Und gefährlich? „Ja, gefährlich.“ Aber die Sicherheitsvorschriften machen den Akkord schwer. Einmal sei er auch gefallen. „Aus acht Metern.“ Vollständige Sätze formen sich nur langsam so früh. Sein Körper war aus dem Lot. Aber er hat gelebt. Und nein, gewählt hat er nicht.

Weiter südlich ist der Hauptbahnhof. Dahinter das Kanzleramt. Drin brennen schon die Lichter. Umrahmt von einem dunkelblauen Himmel, der Tiefe bekommt, je heller es wird, ist das Gebäude. Ein Mensch mit Koffer läuft vorbei. „Nje panimaju“ – ich verstehe nicht. Also einen anderen fragen, wie es ihm geht. Der Polizist am Sicherheitseingang des Kanzleramtes antwortet: „So schlecht wie vorher.“ Dann sagt er noch: „Ich muss neutral bleiben.“

Gestern Abend standen das Kanzleramt und drüben der Reichstag im Scheinwerferlicht. Übertragungswagen, Kameras. Auch Eurovision. Über den Platz der Republik stapfte man nur geblendet. Es sah wie eine Wettkampfarena aus. Der Reichstag war die Tribüne. Die Besucherschlangen auf den Treppen dort, die bis 22 Uhr Einlass begehrten, waren die Schlachtenbummler. Manche standen schweigend. Einer skandierte in Fankurvenmanier. „Heut lieben wir die Änschela.“ Seine Freunde machten das Echo: „Heut lieben wir die Änschela.“ „Änschela ist wieder da.“ „Änschela ist wieder da.“ Als verwechselten sie die Wahl mit dem Sieg einer Borussia, einer Arminia, einer Eintracht. Ein Sieg mit der Halbwertzeit eines Tages.

Jetzt aber, am dunklen Morgen, ist es ruhig. Nur fernes Autogebrumm, dazwischen die Krähen. Ein Mann in Arbeitsklamotten, der auf einem alten Fahrrad am Kanzleramt vorbeifährt, stoppt. „Pappkarton“, nennt er das Gebäude. Einen Sonnenaufgang sieht er nicht, obwohl der Himmel einen violetten Ton annimmt. Ein Sonnenaufgang, das wäre für ihn ein neuer Tag. Mit den Wahlen aber sieht er nur ein Gestern. „Die Langeweile bleibt uns in dieser Struktur erhalten“, sagt er. Langweilig ist es, sagt er, weil die Offenheit der Demokratie zu Scheinbarkeit verkam. Zu kalkulierter Offenheit. Zu Fassade. Zu Stillstand.

Bald 80 Jahre ist der Mann. Jeden Morgen treibt es ihn zu seinen Bäumen. Da verstehe ich: Er ist Ben Wagin, der Künstler. Seit 50 Jahren setzt er in Berlin mit Natur politische Zeichen. Mit Gingko. Sonnenblumen. Jetzt ist seine Herbstzeitlosenzeit. Sein Parlament der Bäume, das er zu Mauerzeiten an der Mauer errichtete, ist ein Statement gegen Staatsgewalt und Terror. Eine Diktatur der Bäume gibt es nicht.

Scheinwerferlos stehen die Übertragungswagen noch vor dem Reichstag. Dort auf den Treppen rauchen zwei Putzfrauen. Gefragt werden wollen sie nicht. Das Touristenpaar, das sich so früh einfindet, dass es den Bodennebel fast anfassen kann, winkt ebenfalls ab. Die lappig gewordenen Rosen, die jemand auf das Denkmal der 86 von den Nationalsozialisten ermordeten Abgeordneten gelegt hat, duften noch im Tau.

Auch am Brandenburger Tor ist es still. Ein Jogger rennt über den Platz. Ein Fahrradfahrer. Zwei Sicherheitsleute. Am Wahlabend hatte dort eine weiß geschminkte Schauspielerin gesessen, mit weißen Haaren, weißem Kleid, weißen Schuhen. Mit weißen Stricknadeln verstrickte sie weiße Wolle. Wie finden Sie das Wahlergebnis, fragte jemand. Da nahm sie ihre weiße Hand aus dem Schoß, formte eine Faust, streckte den Daumen aus und drehte ihn ganz langsam nach unten zum dreckigen Pflaster.

Da, wo sie gestern saß, im Scheitelpunkt eines imaginären Schattens der Quadriga, steht jetzt ein Berliner Müllmann, ganz in Orange. Er pickt den Abfall der Nacht auf. „Berlin ist ein Dreckhaufen“, schimpft er. „Weltstadt, ha – die Welt lacht doch über Berlin.“ Er wirft eine zerknickte Karte von Steinmeier und Müntefering in den Eimer.

Schnell ist er zum Reden zu bringen. Derweil fängt eine rote Sonne an, sich auf die Fassaden der Häuser auf der Nordseite der Straße Unter den Linden zu brennen. Ein Sonnenaufgang, grell, nicht freundlich. So grell wie die Worte des Müllmannes. Niemals würde er Bus oder Bahn benutzen. Er mache sich doch nicht zum Lakaien von Idioten. Niemals würde er bei der Renovierung der Schule seiner Kinder helfen. Dass es keinen Drill im Unterricht gibt, ärgert ihn sehr.

Da höre ich auf, das hören zu wollen. Er aber ist nicht zu stoppen. „Die Wahlen werden gefälscht“, sagt er. Und: „Ich kann mir keine Vierraumwohnung leisten.“ Und: „Neulich hat mich eine Horde Schwarzköpfe mit Steinen beworfen. Die Polizei schaut nur zu.“ Je mehr er redet, desto matter wird das Orange auf den Häusern. Der Sonnenaufgang verblasst. Und dann sagt er noch: „Was soll das, Demokratie!“ Da fängt das Morgengrau an.

Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin. Ihre Rundreise vor der Wahl steht unter taz.de/rundreise.