Sonntaz-Tour in Eisenhüttenstadt: Die schöne Weite der Stalinstadt
Wie die Wirklichkeit jenseits des Wahlkampfs aussieht? Im Osten in Eisenhüttenstadt reden die Leute gern über ihre Sorgen - wenn sie mal jemand fragt.
Wie hingegossen liegt Eisenhüttenstadt an der Grenze zu Polen. Lang dehnen sich die Alleen, dazwischen ducken sich die Häuser unter den hohen Kiefern. Dass hier 35.000 Menschen leben? Wo? Sie verlaufen sich auf den Plätzen, am Kanal, auf den breiten Straßen.
Eisenhüttenstadt ist die letzte Station einer Reise in alle vier Himmelsrichtungen, auf der die Befindlichkeit der Menschen vor der Wahl erkundet wird. Die Stadt im Osten fällt in zwei Teile. Die Bahnlinie trennt sie. Geduldig warten die Leute an der Schranke, wenn ein Regionalexpress durchfährt. Links der Gleise liegt das alte Fürstenberg an der Oder. Rechts der Gleise die Reißbrettstadt des sozialistischen Traums in Sichtweite des EKO-Stahlwerkes. Quadratisch angelegt und erst ein halbes Jahrhundert alt. Sie strahlt DDR aus. Und Charme.
"Bevor Sie mit Leuten in Stalinstadt sprechen, müssen Sie nach Fürstenberg", sagt ein 70-Jähriger auf dem Eisenhüttenstädter Bahnhof. Er spricht gewählt. Er will, dass man erst die heimeligen Bürgerhäuser sieht, dann erst die DDR-Reißbrettstadt, bis 1961 hieß sie Stalinstadt. Als Neunjährigen verschlug es ihn 1948 hierher. Da gab es Stalinstadt noch gar nicht. Und sonst, wie ist Eisenhüttenstadt sonst? "Wenn die Arbeitslosigkeit nicht wäre", sagt er langsam. Selbst war er fast 40 Jahre bei EKO. Als Ingenieur. Nach der Wende wurde er in Frührente geschickt. "Wenn die Arbeitslosigkeit nicht wäre", wiederholt er und sucht lange nach Worten. "Die macht die Menschen leer."
Dieser Text ist der vierte Teil der sonntaz-Tour, die die Redakteurin Waltraud Schwab in den letzten vier Wochen in den Norden, Süden, Westen und Osten der Republik führte. Die anderen Texte dieser Serie sind unten im Text unter "Mehr zum Thema" verlinkt.
Auch andere in Eisenhüttenstadt sind mitteilsam. Gefragt, wie sie die Wirklichkeit politisch fassen, bringen sie ihr Fazit gern zuerst: "Uns fragt ja keiner." Weil jetzt doch jemand fragt, laufen Mund und Herz über.
Da ist die Verkäuferin in der Bäckerei am weitläufigen Rossplatz in Fürstenberg. Dreherin bei EKO war sie. Ohne Arbeit kann sie nicht sein. Deshalb verkauft sie jetzt Kuchen und Brot. Wie lange noch? Ein neuer Discounter hat aufgemacht. "Wir haben Angst, dass wir kaputtgehen", sagt sie. Und: "Den Westen hab ich mir anders vorgestellt."
Weil sie wenig verdient, ist die Alleinerziehende Hartz-IV-Aufstockerin. Vor Kurzem hat einer ihrer zwei Söhne eine Lehre angefangen. Jetzt werden dessen 400 Euro Lehrgeld bei der Bemessung ihres Zuschusses mit berechnet. "Dass der Junge das Geld nicht behalten darf." In den Augen hat sie Tränen.
Weiter östlich die Straße hoch öffnet sich der Blick über den Oder-Spree-Kanal. Das alte Fürstenberg liegt oben am Ufer. Unten am Wasser bauen vier Arbeiter etwas. "Wir arbeiten", rufen sie. Was? "Wir mauern." Was? Einen Schacht bauen sie, der das Abwasser filtern soll, bevor es in den Kanal fließt. Und die politische Befindlichkeit? Die sieht nicht gut aus. "Das Wort sozial gibt es nicht mehr", druckst einer der vier. Es dauert nicht lange, dann wird auf Hartz-IVler und Ausländer geschimpft. Drei der vier werden DVU wählen. Ob sie selbst schon mal soziale Verantwortung übernommen haben? "Auf uns kommt es nicht an."
Nur einer stemmt sich dagegen. Er sitzt auf einem Mauervorsprung, den Kopf in die Hände gestützt. Wie konnte es kommen, dass die Menschen sich mit Arbeit kein Leben mehr aufbauen können?, fragt er. Der Sohn seiner Lebensgefährtin, 1.000 Euro verdient der als Schlosser. Dessen Freundin, Friseuse, 700 Euro. "Davon kann man doch keine Familie gründen." Auch Afghanistan quält ihn. "Ich weiß nicht mehr, an was ich mich halten soll."
Die Arbeiter im Korrosionsschutz auf der Oderwerft weiter südlich am Kanal werden nach Tarif bezahlt. Acht Monate im Jahr. Im Winter sind sie arbeitslos. Auf Hartz-IVler schimpfen sie daher lieber nicht. Auf Ausländer auch nicht. Einer hat eine Rumänin als Frau. Aber worüber sollen sie dann reden? Dass der Arbeitsplatz in dem riesigen Schuppen mit dem aufgebockten Eisbrecher vor der Tür etwas Romantisches hat?
Und rechts der Bahngleise in der Reißbrettstadt, wie ist es da? Für über 100.000 Werktätige war sie mal geplant. Geblieben ist Weite, dazwischen stehen die Wohnblocks und die Kiefern. Auch der Blick von der Magistrale auf die Schornsteine des Stahlwerks wirkt versöhnlich. Schön sieht das aus. "Ja, schön ist es schon", sagt eine 35-Jährige, die mit zwei Kindern am Brunnen an der Werkstraße sitzt. "Aber haben wir Zukunft?" Stahlkocher ist ihr Mann. Einer der verbliebenen 2.700. "In Dauerkurzarbeit."
Am Eingang zur Lindenallee im Café "Cest la vie" sitzt ein Mann, 29 ist er. Seit zwei Jahren arbeitslos. Zwei Ausbildungen hat er. In der Gastronomie eine und als Trockenbauer. Jetzt hat ihn Abschiedsstimmung gepackt. In einem Monat geht er. Obwohl er gern bleiben würde. "Meine Tochter", sagt er, "die braucht doch einen Vater." Trotzdem, nach Bremen will er. Sein Vater lebt dort. "Der will mir nen Job besorgen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!