: „Was haben wir gelacht“
REVOLUTIONÄRE Bärbel Bohley hat Eierbecher bemalt und Honecker gestürzt. Dann galt sie als Heulsuse der Wende. Ein Gespräch über Gelassenheit, Lachen und Adrenalin
■ Herkunft: Geboren am 24. Mai 1945, Vater Konstrukteur, Mutter Hausfrau. Kindheit im zerbombten Berlin. Ab 1969 Malerei-Studium in Berlin, 1970 Geburt von Sohn Anselm, ab 1974 freischaffende Malerin und Grafikerin.
■ Widerstand: 1982 Gründung der Gruppe Frauen für den Frieden, permanente Überwachung durch die Stasi. 1986 sechs Wochen U-Haft wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“, 1985 Gründungsmitglied der Initiative für Frieden und Menschenrechte. 1988 Haft wegen „landesverräterischer Beziehungen“, Abschiebung nach England. Rückkehr nach sechs Monaten. September 1989 Gründungsaufruf des Neuen Forums, dem sich 250.000 DDR-Bürger anschließen.
■ Nachwende: 1994 Spitzenkandidatin für das Neue Forum zur Europawahl, 1995 Treffen mit CDU-Kanzler Helmut Kohl in ihrer Wohnung, Gründung Bürgerbüro e. V. für SED-Opfer. 1996 geht sie nach Bosnien, wo sie in für die UNO arbeitet, u. a. Trinkwasserprojekte und Hilfe für kriegstraumatisierte Kinder. 2008 Rückkehr nach Berlin wegen einer Krebserkrankung. Therapie. Bohley, 64, lebt heute wieder in ihrer alten Wohnung in Prenzlauer Berg.
INTERVIEW ANJA MAIER
taz: Frau Bohley, heißen Sie tatsächlich Bärbel oder ist das eine Abkürzung von Barbara?
Bärbel Bohley: Leider heiße ich Bärbel. Ich fand das immer furchtbar, ich konnte den Namen nie leiden. Meine Mutter hat sich später entschuldigt. Ich bin ja zweieinhalb Wochen nach Kriegsende geboren, und da im Krankenhaus haben alle ihre Töchter Bärbel genannt. Die hatten wahrscheinlich was anderes im Kopf, als nach einem Mädchennamen zu suchen. Ganz schön blöd, wenn man erst zu spät die Freiheit erkennt, die man eigentlich hat. Man kann sich ja einfach umbenennen. Aber jetzt ist es natürlich zu spät.
Ihr Name steht für den Herbst 89. Nervt Sie das?
Das nervt mich manchmal, ja. Das macht mich auch wütend, weil die Bewegung des Herbstes 89 nur in ihrer ganzen Größe deutlich wird, wenn man die vielen Gesichter vor Augen hat.
Werden Sie heute noch auf der Straße erkannt?
Ja, das war natürlich in den Neunzigerjahren schlimmer. Das hat mich gestört, wenn man nirgends ’ne Bratwurst essen konnte. Heute sind die Leute mal erfreut, mal sauer über das, was man sagt. Aber man kann sich nicht nach den Leuten richten. Ich kämpfe ja nicht um Wähler. Ich sage, was ich denke, das ist sicher nicht immer richtig und ändert sich immer mal wieder; denn auch meine Meinung ändert sich ja mit neuen Erfahrungen. Ich hab wahrscheinlich ein dickes Fell und halte wechselvolle Zeiten gut aus.
Woraus schöpfen Sie diese Unabhängigkeit?
Ich habe immer gemacht, was ich für richtig halte. Wissen Sie, ich habe mich zwei-, dreimal in meinem Leben geschämt für etwas, was ich nicht getan habe. Kleinigkeiten. Aber dieses innere Rotwerden wollte ich mir ersparen.
Welche Erlebnisse sind das?
Das ist ewig, ewig her, da war ich so 17. Vor mir an der Currywurstbude an der Schönhauser Allee stand ein Junge, der wollte ’ne Currywurst. Vor uns waren noch zwei Leute. Der Junge hatte nicht genug Geld und zog ganz bedrippt davon. Innerlich habe ich mich dermaßen aufgeregt über den Mann, der hinter ihm stand, dass der ihm das Geld nicht einfach gibt. Und dann bin ich schon weg, da denk ich, warum hab ich ihm denn nicht das Geld gegeben. Ha! Das war so was Furchtbares. Da hab ich mich geschämt. Heiß war mir und schlecht, ich dachte, mein Gott!
Sie meinen Nächstenliebe?
Das hat nichts mit Nächstenliebe, sondern mit Eigenliebe zu tun. Dass man sich gerade zieht. Menschen hängen nicht von solchen Erlebnissen ab, aber man vergisst sie nicht. Das ist das Interessante – warum vergesse ich das nicht? Ich wollte mich nie schämen. Das ist ein Gefühl, dass ich nicht leiden kann und im Vorfeld versuche zu vermeiden. Es kostet einen mehr, wenn man keine innere Haltung hat.
Ihre Haltung hat Sie einiges gekostet. Als Sie wegen Ihres friedenspolitischen Engagements 1982 aus dem Vorstand des Berliner Verbandes Bildender Künstler geschmissen wurden, brachen die Aufträge weg. Wovon haben Sie damals gelebt?
Ich habe in den Achtzigerjahren Eierbecher bemalt. Ich war ja noch Verbandsmitglied und konnte deshalb jemanden anstellen. Da hab ich Katja Havemann, die Witwe von Robert Havemann, angestellt, die durfte ja auch nicht arbeiten als Erzieherin mit so ’ner Ehehälfte, ob die nun tot war oder nicht.
Davon konnten Sie leben?
Ja, Katja und ich haben davon gelebt, und unsere Kinder auch. Anselm und Franziska. Das war natürlich nur in der DDR möglich – weil es eben keine Eierbecher gab und jeder glücklich war, wenn er auf irgendeinem Markt so einen Keramikeierbecher bekam. Blau mit weiß oder irgendwelchen Girlanden, so ’n Zeug. Im Laden gab’s ja nur Plasteeierbecher.
Haben Sie noch welche hier in Ihrer Wohnung?
Nein, ich konnte die auch irgendwann nicht mehr sehen.
Sie sind Malerin, Diplommalerin sogar. Was malen Sie heute?
Ich male seit 1989 überhaupt nicht mehr. Ich will nicht. Das war ein anderes Leben. Das geht auch nicht, ich bin kein Mensch, der vormittags malt und nachmittags auf einer Versammlung rumsitzt. Es gibt ja Leidenschaften, die verblassen. Ich schreibe mal was oder mache mir kleine Notizen. Für mich war immer wichtig, kreativ zu sein, und ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben kreativ. Das muss nicht unbedingt auf einer Leinwand sein. Da ist mir Beuys nahe mit seiner Auffassung von der sozialen Plastik, nach der das menschliche Handeln die Gesellschaft formt.
Was ist momentan Ihre soziale Plastik?
Dass ich mit Ihnen rede. Entweder verändert das auch Sie, oder es war ein sinnloser Arbeitstag.
Wie geht es Ihnen heute?
Das sage ich Ihnen sowieso nicht.
Sie sind misstrauisch gerade.
Ich fürchte mich nicht. Ich will aber überlegen, was ich sage.
Wovon leben Sie?
Sie sehen, ich lebe. Sicher eingeschränkter als früher, aber nicht schlechter. Ich habe kein Auto. In Bosnien bin ich gefahren, weil es ja gar nicht anders ging. Aber in Berlin würde ich nie fahren, hier ist alles viel zu schnell. Geschwindigkeit macht mich nur nervös. Ich will bald raus aus dem Prenzlauer Berg.
Warum?
Das gefällt mir hier nicht so. Mein Problem ist, das Berliner Zentrum ist ein anderes geworden. Die jetzt hier leben, haben eigentlich kein Interesse für unsere Geschichte, also für die Leute, die hier gelebt haben. Die meisten von uns sind längst weggezogen. Hier wohnen jetzt junge Leute aus Baden-Württemberg, und ich weiß nicht, woher. Und wenn die mir die Geschichte vom Prenzlauer Berg erzählen, da krieg ich schon echt ’n Bart. Möchte ich nicht hören.
Ostberlin ist hip.
Für die ist das Leben hier der Schritt raus aus der Enge in Baden-Württemberg, in eine Stadt in Bewegung. Das verstehe ich, aber die kreiseln so um sich selbst, das ist mir fremd. Sehr äußerlich, sehr viel Schein. Ich will gar nicht sagen, dass die unpolitisch sind, vielleicht ist es ja politisch. Aber mich langweilt es.
Was stört Sie denn so?
Hier in der Nähe gibt es zum Beispiel so ein Angebot, wo man seinem drei Monate alten Kind beibringen kann, mit Psychostress fertig zu werden. Ich kann darüber lachen. Aber es geht mir trotzdem auf die Nerven. Ich möchte nicht inmitten solcher Leute leben. Dafür habe ich zu viel andere Sachen gesehen. Ich weiß, dass da in Bosnien viele Kinder psychologische Hilfe brauchen, und dann kommt mir so was ehrlich gesagt bescheuert vor. Ich liebe diese kleinen Kinder mehr als die Mütter, die sind mir sympathischer. Und ich denke auf der Straße dann, bitte werde nicht so wie deine Mama.
Wo wollen Sie denn hin?
Ich will irgendwo leben, wo man noch ’ne Oma sieht, jemanden, der graue Haare hat. Hier wird alles durchsaniert. Haben Sie sich die Umbauarbeiten im Haus angeschaut? Da wurde als Erstes ein großer Ahornbaum abgesägt für die Tiefgarage und dann der Fliederbusch. Ich weiß gar nicht, was das wird. Das sieht aus, als wenn mir wieder jemand eine Mauer vor die Nase setzt. Ne hübsche Mauer – aber ne Mauer. Und das wird hier als Ökohaus verkauft. Das ist absurd.
Ist Ihnen als Ostlerin Absurdität nicht geläufig?
Der Osten war auch absurd, aber diese absurde Art hab ich geliebt. Das hatte was Menschliches. Aber das hier – na ja, ich weiß nicht. Wie kann jemand ein Ökohaus verkaufen, wo er gerade jeden Halm rausgerupft hat und tonnenweise Beton holzverkleidet hat. Das wird sich auch wieder ändern, das können die sich nicht vorstellen. Dass das, was oben ist, nicht oben bleibt – da hatte Brecht schon recht.
Vermissen Sie die DDR?
Ich vermisse einiges. Wenn man das heute sagt, wird das ja immer so weggebügelt. Ich vermisse den Gedanken der Gleichheit, der ja da war, den fand ich immer ganz angenehm. Selbst die, die die Macht hatten, hatten ja eigentlich nichts davon. Die hatten nur diese blöde Macht, die mir gar nichts bedeutete. Ich habe so richtig neidlos gelebt. Und ich hatte immer das Gefühl der sozialen Gleichheit. Ich werde auch nicht gern in der S-Bahn von Leuten um Geld angebettelt, das habe ich in der DDR nicht erlebt. Nicht mal in Bosnien, wo ich bis letztes Jahr gearbeitet habe. Da sind die Leute von der Familie aufgefangen worden. Und dann bin ich von Sarajevo nach Berlin gekommen, und vor meiner Kaufhalle saßen Bettler.
Was war lustig an der DDR?
Wir haben wahnsinnig gelacht, doch. Was haben wir gelacht. Es gab viele politische Witze. Es war vieles lustig in Absurdistan. Für mich persönlich war ja selbst die Stasi lustig. Ich weiß, das ist ein Sakrileg, wenn ich das so sage. Ich weiß auch, wie brutal die auf der anderen Seite waren. Aber es war lustig, wenn die hier vor meinem Haus standen, irgend so ’n blöden Beutel in der Hand und dachten, man erkennt sie nicht. Sie haben immer so auf Hans guck in die Luft getan. Aber jeder hat sie erkannt. Sie hatten kalte Füße, und wir haben Wein getrunken.
Was noch?
Lustig ist auch, dass es von meinem Haus nur Fotos gibt, wo Bauwagen drauf sind. Früher saß da die Stasi drin, heute lagern die Bauleute ihre Werkzeuge drin. Als wenn ich mit einem Bauwagen verheiratet wäre.
Keine Angst vor der Stasi?
Doch, aber man durfte sich von der Angst nicht überwältigen lassen. Deshalb hat man ja besonders auf die amüsanten Dinge geschaut. Die zwölfjährige Tochter meiner Freundin hat zum Beispiel mal angerufen und gesagt: Die Stasi hat mein Taschengeld geklaut! Dabei hatte es ihre Mutter zum Einkaufen gebraucht. Unbewusst wurde alles Unangenehme auf die Stasi geschoben, wenn man nicht gleich seine Schuhe vor dem Bett gefunden hat, war der erste Gedanke: Die Stasi war da.
Mögen Sie den Begriff Wende?
Der ist für mich wirklich kein guter Begriff. Ich finde das schon sehr schön mit der Revolution. Das war sie, weil mit den Menschen und in den Menschen so viel passiert ist. War schön. War sehr schön. War etwas Großartiges in meinem Leben, was mir keiner mehr nehmen kann. Ich glaube, wenn man das so ’n bisschen bewusst erlebt hat und sich nicht völlig überrollt gefühlt hat – da gab es ja sicher auch viele –, dann ist das etwas, was einem Kraft gibt. Man weiß: Dinge können sich von Grund auf ändern, das ganze Leben. Das ist was Hoffnungsvolles. Der zäheste Brei kann zum Vulkan werden.
Wenn Sie sich erinnern – welches Gefühl war in der Wendezeit ihr bestimmendes?
Ich war manchmal total fertig. An dem Tag zum Beispiel, als abends die Mauer fiel, ist morgens das Neue Forum anerkannt worden als politische Vereinigung. Mittags haben wir hier auf dem Hof unter dem Ahorn eine riesige Pressekonferenz gemacht, abends fiel die Mauer. Und zwischendurch waren hier hunderttausend Leute, die irgendwas wollten. Man war nur müde. Eigentlich nur müde. Im Innersten war man ständig überfordert – zu viel Adrenalin.
Welcher war der freudigste Augenblick in jenem Herbst 1989?
Das Schönste war, zu sehen, wie Leute auf einmal geguckt haben. Aus Zombies wurden so lebendige Wesen – wunderbar.
Haben Sie damals realisiert, dass Sie eine historische Rolle spielen?
Diese historische Rolle lehne ich einfach ab. Der Herbst 89 war das Erlebnis von vielen – und diese geteilte Freude war gut und das Besondere. Ich meine, wer kannte denn in der DDR Bärbel Bohley, jetzt mal ganz ehrlich. Ich gehöre nicht zu denen, die vergessen haben, was wir eigentlich wollten. Wir wollten nämlich nicht unbedingt, dass die Mauer fällt, daran haben wir gar nicht gedacht. Und wenn heute viele sagen, sie wollten die Wiedervereinigung, dann haben sie vergessen, dass sie Freiheit wollten. Und zwar in ihrem Leben, das sie in der DDR führten. Alles andere kam später.
Wie gehen sie damit um, wahlweise als Kassandra oder Heulsuse geschmäht zu werden?
Ich denke nicht darüber nach, was die Leute so gegen mich aufbringt. Das wäre ja blödsinnig. Sie müssen die Leute fragen, was sie so sauer macht. Also ich weiß es nicht. Mir ist das egal, weil man kann nicht Rücksicht darauf nehmen. Das würde ja bedeuten, dass ich geliebt werden will, und das ist nicht mein Antrieb, nicht mein Ziel. Mich muss niemand lieben. Nein, will ich nicht. Ist doch schön, wenn die Leute ne klare Meinung haben.
Haben sie verstanden, dass Ihnen viele ihr Teetrinken mit Helmut Kohl verübelt haben?
Natürlich wird Helmut Kohl als Politiker gedacht haben: Nützt mir das oder nicht? Davon gehe ich mal aus, das macht ja jeder Politiker. Für mich war das ein verspätetes Gespräch, das eigentlich viel früher hätte stattfinden müssen. Wenn Erich Honecker je hier geklingelt hätte und gesagt hätte, wollen wir nicht mal über das reden, was wir gerade hinter uns haben, ich hätte ihn auch reingelassen. Ich verstehe immer nicht, dass Leute da so engherzig sind.
Was regt sie heute auf?
Ich kann Ihnen nur sagen, mich regen diese Widersprüche nach wie vor auf, die um uns herum existieren. Diese Finanzkrise kommt ja hier nur sehr abgemildert an, und wir reden nicht darüber, was in den anderen Ländern jetzt passiert. Die werden völlig vergessen, die hungernden und sterbenden Kinder. Das ist doch furchtbar. Es gibt gar kein neues Denken, immer nur in diese Richtung Wachstum, Wachstum! Es gibt wenige, die das hinterfragen. Die Umwelt wird uns die Rechnung quittieren. Die und die Menschen in den Ländern, die jetzt vergessen werden.
Da ist sie wieder – die Kassandra vom Prenzlauer Berg.
Ich bin nicht schadenfroh, aber ich sehe: Wir werden lernen müssen. Auf eine sehr unangenehme Weise werden wir unsere Lehren ziehen. Es wird immer nur der Wunsch geschürt, mehr zu konsumieren. Aber ich bin doch nicht glücklicher, wenn ich ein Paar Schuhe mehr habe. Die Frage nach neuen … oder ganz alten Werten, die steht wieder an. Und 1989 hätten wir auf viele dieser Fragen gute Antworten geben können.
Was macht Sie glücklich?
Es gibt wahnsinnig schöne Dinge zu erleben. Ich war neulich in den Shakespeare-Sonetten und wurde ganz verzaubert. Oder ein Konzert mit Marianne Faithfull, die mir kein Begriff war, dafür habe ich neulich Karten geschenkt bekommen. Schlagen Sie mich: Ich kannte sie nicht, und ich war begeistert, ja. Ich hab da echte Defizite, und das ist ganz wunderbar, wenn ich die jetzt etwas abarbeite. Es gibt so viele Sachen, da freue ich mich, dass das möglich ist. Eines meiner schönsten Erlebnisse war die Eröffnung des Neuen Museums in Berlin. Das Museum hat mir immer sehr viel bedeutet. Gleich da in der Spree habe ich als Kind Krebse gefangen. Mein Vater war damals so traurig, dass dieses schöne Museum zerbombt war. Und plötzlich ist es wieder da, und es ist wunderschön. Darüber bin ich sehr glücklich.
■ Anja Maier, 43, sonntaz-Redakteurin, geboren und aufgewachsen in Berlin, Hauptstadt der DDR