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Zuerst zogen sie die Stecker in der Regie

Mit dem Tag des Journalismus wird heute in der Türkei die Abschaffung der Zensur vor 112 Jahren gefeiert. Doch es gibt wenig zu feiern: Die Pressefreiheit ist nach wie vor bedroht

Gemeinsam laut für die Pressefreiheit: Solidarität muss grenzüberschreitend sein Illustration: Zeynep Özatalay

Von Banu Güven

Heute vor 112 Jahren, am 24. Juli 1908, wurde im Osmanischen Reich die Pressezensur abgeschafft. Das bedeutet nicht, dass die Presse seitdem immer frei war, aber seit dem gescheiterten Putschversuch vor vier Jahren wurde die Medienlandschaft in der Türkei so stark beschädigt wie lange nicht. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Kader der Gülen-Bewegung erfolgreich gewesen wären. Doch die Abwehr ihres Putschversuches brachte einen Staatsstreich mit besonders langem Atem hervor, dessen Auswirkungen wir heute zu ertragen haben. Die Machthaber betrachteten den Coup als Gottesgeschenk und gingen radikal gegen sämtliche Gegner*innen vor: Wer etwas hinterfragt oder kritisiert, gehört bekämpft.

Am 4. Oktober 2016 wollten wir gerade mit unserer Redaktionskonferenz beim oppositionellen Fernsehsender IMC beginnen, da füllten sich unsere Büros mit Polizisten. Als Erstes zogen sie in der Bild- und Tonregie die Stecker. Die regierungsnahe Zeitung Sabah hatte schon ein paar Tage zuvor geschrieben, dass es jetzt aus sei für Sender, die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellten. Sie meinten damit Kanäle mit einer linken Redaktionspolitik oder kurdischsprachigen Angeboten. Dabei gab es so viel zu berichten, so viele Fragen zu stellen. Also krempelten wir die Ärmel hoch und fingen an, online zu publizieren. Unter dem Namen HaberSizsiniz („Ihr seid die Nachrichten“) berichteten wir auf Twitter und Facebook, so gut es ging. Wir wollten Widerstand leisten. Das machten wir freiwillig, ohne Einkommen, und mussten zeitgleich unter drastisch veränderten Umständen versuchen, unser Leben zu bestreiten. Manche von uns mussten ihre Mietwohnungen aufgeben oder gar in andere Städte umziehen. Manche begannen, für Umfrageinstitute oder in einer Schreine­rei zu arbeiten oder ein Café zu betreiben. Es gab nur noch wenige Medien, die nicht unter der Kontrolle der Regierung standen. Dort versuchte man, den unzähligen arbeitslosen Kolleg*innen Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Kaum jemand von uns konnte noch mit dem eigentlichen Beruf, Journalismus, seinen Lebensunterhalt bestreiten.

Medienhäuser im Ausland, denen die grenzüberschreitende Bedeutung von Journalismus bewusst war, öffneten sich für uns, nicht zuletzt auch, um einen freien Informationsfluss zu gewährleisten. DW Türkçe ermöglichte uns, wieder aus der Türkei zu berichten, und das traditionsreiche türkischsprachige Programm des WDR schuf mit seinem Projekt „Türkei unzensiert“ einen wichtigen Raum, in dem Journalist*innen den Maulkörben trotzen konnten.

Die taz schaffte mit dem Projekt taz.gazete für uns Journalist*innen in der Türkei regelrecht eine Sauerstoffversorgung. Wer etwas recherchiert hatte, klopfte bei taz.gazete an. Es gab Exklusivinterviews und Dossiers in zwei Sprachen. Die Regierung wollte die Menschen informationslos und damit ahnungs- und arglos halten. Doch dank der sozialen Medien konnten sich Onlineangebote wie taz.gazete in der Türkei rasch verbreiten. Unregelmäßig zwar, aber immerhin frei konnten Kol­leg*innen dank dieser Plattform ihren Beruf ausüben. taz.gazete war eine bescheidene, aber wichtige Ressource im Überlebenskampf des Journalismus in der Türkei. Fast vier Jahre bestand das Projekt, und heute heißt es Abschied nehmen. Ich weiß, dass man von Solidarität nicht erwarten kann, dass sie ewig besteht, aber ich bin traurig, und ich bin ein wenig besorgt.

Denn die Situation in der Türkei ist in diesen vier Jahren nicht etwa besser geworden. Im Gegenteil, der Mainstream wird mittlerweile komplett von Regierungsmedien ausgefüllt. Die wenigen unabhängigen Sender sind von Schließung bedroht. Investigativer Journalismus steht unter Generalverdacht und einige Kolleg*innen werden behandelt wie gefährliche Spione. Die Gefängnisse sind auch in Coronazeiten voll mit Journalist*innen. Auch die sozialen Medien will Erdoğan unter seine Kontrolle stellen.

Die Regierung wollte die Menschen ohne Information – und damit ahnungs- und arglos – halten

Doch nicht nur unliebsame Nachrichten sind dem Staatspräsidenten ein Dorn im Auge, sondern auch Serien, die nicht seinen eigenen Werturteilen entsprechen. Vor Kurzem sagte er: „Seht ihr, warum wir gegen Youtube und Twitter und Netflix sind? Weil wir diese Morallosigkeiten beseitigen wollen!“ Die Regierung hat Erfahrung damit, Youtube, Twitter und sogar Wikipedia (drei Jahre) zu sperren. Sie weiß jetzt, dass Verbote keine langfristige Lösung sind, und sucht nach neuen Regulationsmechanismen. Nun müssen die Onlinedienste eigene Büros in der Türkei unterhalten, die dafür verantwortlich sein sollen, Nutzerdaten an die Regierung herauszugeben und auf Befehl hin Artikel oder Posts zu sperren.

Dabei wird Erdoğan auch dieses Jahr wieder eine vollmundige Ansprache zum Tag des Journalismus und der Presse halten. Solange er das tut, müssen wir zusammenhalten und zusammenstehen.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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