debatte: Organisiert euch!
Soziale Bewegungen sind während des Corona-Ausnahmezustands weniger sichtbar geworden. Dabei brauchen wir Widerspruch dringender denn je
Gabriele Bischoff
ist Geschäftsführerin der Bewegungsstiftung – eine Gemeinschaftsstiftung, die soziale Bewegungen, die sich für Ökologie, Frieden und Menschenrechte einsetzen, mit Zuschüssen und Beratung unterstützt. Sie wird von über 200 Stifter*innen getragen.
Corona zeigt: In Zeiten der Krise wird durchregiert. Es schlägt die Stunde der Exekutive. Freiheitsrechte werden eingeschränkt, Rettungspakete geschnürt, Gesetze durchgewinkt. Gleichzeitig steigen die Umfragewerte der Regierung. In unsicheren Zeiten kommt es offenbar gut an, wenn die Politik sagt, wo es langgeht. Wo bleibt der Protest?
Ja, es gab ihn, als es im Frühjahr um die Corona-Beschränkungen ging – angeführt von Verschwörungstheoretiker*innen und Rechtsextremen. Und ja, es gab die großen Black-Lives-Matter-Proteste, ausgelöst durch den Mord an George Floyd in den USA. Dieses schreiende Unrecht hat auch in Deutschland Zehntausende auf die Straße gebracht und – längst überfällig – den Blick auf den Rassismus im eigenen Land gelenkt.
Aber was ist mit all den Themen, die uns in den Monaten vor Corona bewegt haben und die uns auch jetzt auf die Barrikaden treiben sollten? Klimagerechtigkeit und Kohleausstieg? Steigende Mieten und die Verdrängung aus den Städten? Die Abschottung Europas und das Sterbenlassen an den europäischen Außengrenzen?
Diese Probleme verschärfen sich. Stichwort Festung Europa: Das Coronavirus wird als zusätzliche Rechtfertigung missbraucht, um im Mittelmeer Häfen zu schließen, auf SOS nicht zu reagieren und damit Menschen ertrinken zu lassen. Ganz zu schweigen von den unmenschlichen Zuständen in Moria oder den Zwangsquarantänen in deutschen Lagern, deren Bewohner*innen keine Chance haben, Abstand zu wahren oder Hygieneregeln einzuhalten.
Stichwort Mietenwahnsinn: Im Rahmen der Hilfspakete gab es zwar bis Ende Juni einen Kündigungsschutz für Mieter*innen, aber keine Kostenübernahme. Gleichzeitig sinkt durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeitergeld bei vielen das Einkommen, so dass bald eine Welle von Kündigungen und Zwangsräumungen droht. Laut einer Umfrage von „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ befürchten mehr als ein Drittel der Menschen, bald die ohnehin schon zu hohen Mieten nicht mehr zahlen zu können.
Stichwort Klimakrise: Mit dem gerade beschlossenen Kohlegesetz wirft die Bundesregierung den Stromkonzernen Milliarden Euro hinterher, sichert deren klimaschädliches Geschäft für die nächsten 18 Jahre ab – und das alles für eine Energieform, die schon jetzt überflüssig ist.
Was wir jetzt brauchen, sind Menschen, die sich einmischen und Protest organisieren. Jetzt werden die politischen Weichen gestellt: für ein „Weiter so wie bisher“ oder für eine gerechtere, zukunftsfähige Gesellschaft. Dass Fortschritte möglich sind, zeigen die Themen Ausbeutung in der Fleischindustrie oder Lobbyismus. Nach der Amthor-Affäre kann sich auch die CDU einem Lobbyregister nicht mehr verweigern. Engagierte Menschen und Initiativen haben bei beiden Themen jahrelang dicke Bretter gebohrt. Nun endlich reagiert die Politik.
Die Lehre daraus: Ohne beständigen Druck bewegt sich nichts. Soziale Bewegungen brauchen jetzt Unterstützung, um diesen Druck aufbauen und halten zu können. Denn all die Aktiven, die Initiativen, kleinen NGOs und Graswurzelbewegten, die das Rückgrat von sozialen Bewegungen bilden – sie werden durch die Corona-Bedingungen ausgebremst.
Die Medien sind immer noch auf Corona-Nachrichten fokussiert. Politik- und Wirtschaftstermine, bei denen sich mit Protest anknüpfen ließe, fallen aus oder werden ins Netz verlegt. Abstandsregeln machen Treffen schwer. Mobilisierung für große Demos und Aktionen ist unter den aktuellen Bedingungen kaum möglich, und viele Bewegungen können nicht einfach auf Onlineprotest (der ohnehin auf wenig Medieninteresse stößt) und Videokonferenzen umstellen.
So berichten Mietinitiativen, wie schwierig es ist, Kontakt zu halten, weil viele Mitstreiter*innen im Rentenalter sind, keinen Computer haben und Telefonkonferenzen zu anstrengend finden. Stattdessen wird jetzt über Wandzeitungen im Hausflur kommuniziert. Privatisierungsgegner*innen berichten, dass eines ihrer wichtigsten Mobilisierungsmittel – Unterschriften sammeln und Faltblätter verteilen – nicht mehr funktioniert, weil die Menschen auf der Straße keinen Stift oder Flyer in die Hand nehmen.
Ein Aktivist aus der Geflüchtetenbewegung befürchtet, dass die über Jahre aufgebauten Strukturen der Selbstorganisation wegbrechen werden, wenn es nicht bald wieder persönliche Treffen gibt. „Wir müssen reden und uns in die Augen gucken können.“
Kohlegegner*innen müssen damit umgehen, dass die Groko das Kohlegesetz ungestört durchwinken konnte. „RWE hat in der Corona-Zeit Fakten geschaffen und weiter gebaggert. Jetzt bleibt uns nur die direkte physische Blockade, um die Dörfer in den Braunkohlerevieren zu retten“, so ein Aktiver.
Wiebke Johanning
ist dort für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.
Unterschiedliche Themen, unterschiedliche Probleme. Doch eine gemeinsame Botschaft haben alle sozialen Bewegungen an ihre Unterstützer*innen: Ohne euch schaffen wir es nicht! Stärkt uns den Rücken! Engagiert euch weiterhin für die Themen, die euch wichtig sind. Leitet Informationen weiter. Werdet aktiv und zeigt euch solidarisch mit Geflüchteten, Nachbar*innen und Menschen, deren Kämpfe ihr unterstützt. Nehmt teil an Aktionen und Protesten, die verantwortungsvoll und mit Abstand Druck auf der Straße machen!
Wenn all das gerade nicht geht, weil der Corona-Alltag über euch zusammenbricht – dann spendet, wenn ihr könnt! Auch Geld bedeutet Solidarität und stärkt Organisationen den Rücken. Einige Initiativen verzeichnen bereits Spendenrückgänge und befürchten Schlimmeres, wenn die Krise anhält. Solidarität in Form von Mitmachen, Verbreiten und Spenden ist das, was soziale Bewegungen jetzt brauchen – damit die Zivilgesellschaft gehört wird, gerade in Krisenzeiten!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen