Mit Benzin­explosionen nach Süditalien

Der deutsche Dichter Otto Julius Bierbaum hat im Jahr 1902 mit dem Adlerwagen die erste dokumentierte Autoreise unternommen

Der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum Foto: Hugo Erfurth/akg-images

Von Manfred Kriener

Das schnittige rote Auto ist ein Adler-Phaeton. Kein Millionärsvehikel, sondern ein leichter preiswerter Laufwagen. Er hat einen Zylinder, drei Gänge, vier Sitze und acht Pferdestärken. Die Türen fehlen und eigentlich fehlt auch ein anständiges Dach. Gegen Regen und Wind hilft eine Plane mit Gucklöchern und die voluminöse Schutzbrille für die drei Passagiere. Vorne am Lenkrad sitzt der treffliche Louis Riegel, der Chauffeur, der damals noch Führer oder Maschinist genannt wird. Neben ihm thront das Reisegepäck. Auf den Rücksitzen machen es sich die beiden Hauptpersonen bequem: der Dichter Otto Julius Bierbaum und seine Frau. Es ist Frühling, als im Mai 1902 die Fahrt beginnt. Nicht irgendeine Fahrt, sondern die erste in Deutschland als Buch veröffentlichte Reise mit einem Automobil. Der Adlerwagen, wie ihn Bierbaum gern nennt, soll seine Insassen „mit fortgesetzten Benzinexplosionen“ von Berlin nach Süditalien bringen und wieder zurück bis an den Rhein. Dreieinhalb Monate lang.

Mit 25 bis maximal 35 Stundenkilometern geht es in langen Tages­etappen gen Süden – reisen ohne zu rasen. In Briefform mit unnachahmlich barocken Sätzen berichtet Bierbaum in seinem Buch „Eine empfindsame Reise“ von den Erlebnissen dieser Italienfahrt. Bierbaum ist ganz der kulturbeflissene Bildungsbürger, immer auf der Suche nach den Kunstschätzen des gelobten Landes, aber auch nach der großartigen, zuweilen wilden Schönheit der italienischen Landschaft. Und immer wieder entzücken ihn auch „die Prachtexemplare von Menschen an Gestalt und Antlitz“.

Es ist eine wunderbare Reise in der neuen Erschütterungsmaschine, immer wieder unterbrochen von zerfetzten Pneus und plötzlichen Schüssen aus dem Auspuff. Oder von kleinen Fußmärschen, wenn der Anstieg so steil ist, dass die Passagiere das ächzende Fahrzeug erleichtern müssen. Der stets fröhliche Bierbaum, mit 37 Jahren schon von korpulenter Natur, ist allerdings schlecht zu Fuß, weshalb er den Bewegungsrausch im Automobil umso mehr genießt.

Über Meißen, Prag, Salzburg und München geht es nach Südtirol. Die Etappe von Brixen nach Bozen wird zum ersten Höhepunkt, zur „schönsten Fahrt, die wir bis jetzt gehabt haben. Hier vereinigt sich der Reiz der nördlichen Landschaft mit dem der südlichen. Die Vorberge waldreich und streng, das Tal üppig, fruchtbar und milde, und überall als Abschluss gewaltige Berge, die aber schon die ruhigere Weise des Südens haben.“

Otto Julius Bierbaum: „Eine empfindsame Reise im Automobil – von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein“, 164 Seiten, 12,90 Euro

Nach pneumatikmörderischer Fahrt durchs Weingelände lockt Trient, die erste Stadt von rein italienischem Charakter, wie Bierbaum schreibt. Er hält sich dort dennoch nicht lange auf, lobt nur kurz die grimmige Schönheit des Doms, bevor er über Bassano nach Venedig fährt, zur wundervollen alten Dame, Heldin, Herrscherin, Kurtisane, Königin. Für Bierbaum ist Venedig keine Stadt, sondern ein einziges Kunstwerk, „fast zu schön für die plebejische Gegenwart“.

Trotz der unerschöpflichen Reize Venedigs bleibt der deutsche Dichter seltsam ambivalent, lässt sich von der Melancholie anstecken. Erst stört ihn das Kanaltingeltangel, dann die permanente Ausstellung der Vergangenheit, alles sei nur für die Fremdenindustrie gemacht. Das Innere des Dogenpalasts lässt ihn seltsam kalt, der Pomp ist ihm zu schwülstig und allzu laut. Doch dann packt ihn „die mächtige Pracht der byzantinischen Mosaiken im herrlichen Hause des heiligen Markus“. Am Ende ist er versöhnt mit den Sternen am Himmel der venezianischen Kunst, die Freude darüber werde er niemals vergessen.

Ungeteiltes Entzücken dann aber über Padua mit seinen Herrenhäusern, den Laubenbögen und dem reichen bildhauerischen Schmuck. Und mit seinen Zitronengärten. Das Paar lässt sich durch die Baumreihen führen und zählt 68 verschiedene Zitronensorten, darunter auch die riesige Pompeani, groß wie ein kleiner Kürbis, zwölf Zentimeter im Durchmesser, aber ungenießbar bitter. Vom Gelb der Zitrone ist es nur ein Katzensprung zum unvergesslichen Blau des großen Malers Giotto di Bondone, einem der Wegbereiter der italienischen Renaissance. Die Werke Mantegnas und Giottos zählt Bierbaum „zum Erhabensten, das man überhaupt sehen kann“.

Weil die Kunst ganz im Mittelpunkt steht, kann das Kulinarische nur eine kleine Nebenrolle besetzen. Und auch das Meer kommt viel zu kurz. Doch dann erwischt die Reisenden ein Defekt. Lange hatte der Adlerlaufwagen am Po entlang und „herrlich bei Rhythmus“ seinen Dienst verrichtet, als unweit von Rimini der Luftschlauch gleich zweimal den Geist aufgibt. Und plötzlich dürfen wir mit Bierbaum die blaue Flut erblicken, dürfen Muscheln suchen, Krabbenfischer fotografieren. Neben dem Meeressaum stehen blühende Lupinenfelder und – „hübsche Bauernmädchen mit allerliebst erstaunten Gesichtern“. Immer wieder beschreibt Bierbaum mit Stereotypen, wie sich das heute niemand mehr trauen würde, diesen und jenen Menschenschlag. Er seziert die Leute am Wegesrand. Das Landvolk lobt er, weil es durchaus nicht so aufs Geld erpicht sei. Und überhaupt erscheinen ihm die Italiener „unverdorben, sind ein prächtiges Volk, nicht bloß äußerlich. Sie haben Stolz und Bescheidenheit zugleich. Das nenn’ich antiken Charakter. Und die Dekandence der romanischen Rasse? Zeitungsschreiberworte.“ Selbst die durch Armut „Degenerierten“ in den Großstädten seien weniger unglücklich als bei uns. Die Zerlumptheit der Bettler, schreibt er allen Ernstes, habe Tradition und Stil.

„Ein prächtiges Volk, nicht bloß äußerlich. Sie haben Stolz und Bescheidenheit zugleich“

Rimini, der Apennin, die „ideale Landschaft der Toskana“, dann Florenz, Cortona und schließlich Rom. Der Dichter ringt um Worte, so „zauberhaft innig und voller Holdseligkeit“ erscheinen ihm die Kunstwerke, vor allem natürlich in Florenz und Rom. Zwar schimpft er über die „verfeigenblätterten Marmorschönheiten“, deren Geschlechtsteile verschämt zugedeckt wurden, doch „die dreimal heilige Kraft der Schönheit hat den Teufel des Hasses, der Schwere, des Zweifels endgültig ausgetrieben“. Die Beschreibung der Kunstwerke reinster Art erreicht hier ihren Gipfel.

Dann dürfen wir auch Appetit und Lust bekommen auf das selbst gebackene und geröstete Brot der Italiener, auf Tonkübel voller Olivenöl, auf den roten Chianti und den gelben Vin Santo. Wenn nur nicht die verderbliche Vogeljagd wäre. Schon geht es weiter auf staubweißen Straßen im schönsten Rhythmus des Benzinwagens mit Kurs auf Neapel – hin zum unvergleichlich intensiven Rot der Blüten des Granatapfelbaums.

Bierbaum ist immer wieder auf ansteckende Weise entzückt von der „ruhigen Fülle“ des Südens. Auch 118 Jahre später kann man diese Begeisterung teilen. Und dann, in Cocumella bei Sorrent, erfüllt Meister Bierbaum auch unseren Traum vom Nichtstun: „Einfach in der Sonne liegen und das Glück einer solchen Existenz genießen – nur dieses ziemt sich hier, und alles andere ist Sünde wider die Götter.“