Jenny Arm Links

Familiengeschichten: Unter dem Titel „Vladimir & Estragon“ begegnen sich in der Werkstattgalerie Hermann Noack Werke von Andreas Mühe und Emmanuel Bornstein

Arbeiten von Andreas Mühe (Foto links und Porzellan) und Emanuel Bornstein (Bilder hinten) Foto: Roman März/Skulpturenforum Hermann Noack

Von Christopher Suss

„Mischpoche“ ist einer der vielen Jiddismen in der modernen deutschen Sprache und heißt so viel wie „Familie“. Zwar hört man den gewiss nicht mehr so häufig wie etwa „Schlamassel“ oder „Tacheles“, aber den Künstler Andreas Mühe und den Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin scheute das nicht, eine große Schau im vergangenen Jahr so zu nennen.

Was der einst als „Kanzlerfotograf“ Bekannte dort begonnen hat – eine komplexe Archäologie seiner eigenen Familie zu betreiben und neuerdings skulptural zu arbeiten –, führt er nun in der Werkstattgalerie Hermann Noack zusammen mit seinem Freund Emmanuel Bornstein fort. „Vladimir & Estragon“, so hier der Richtung Samuel Beckett zeigende Titel, ist ein Herzensprojekt.

Die beiden Künstler kennen sich seit vielen Jahren und unterhalten benachbarte Ateliers in Pankow. Mühe ist derjenige von beiden, dessen künstlerischer Karriere schneller Flügel wuchsen: In den Nullerjahren erregte er mit Auftragsfotografien politischer Machthaber Aufsehen in der deutschen Magazinlandschaft und porträtierte später auch in freien Serien historisch gewordene Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Helmut Schmidt.

Auch wenn man seiner Mischpoche begegnet, sind die Namen und Gesichter keine Unbekannten. Sein Vater Ulrich spielte den herzensguten Stasi-Hauptmann in „Das Leben der Anderen“, seine Mutter ist die Theaterintendantin Annegret Hahn. In zweiter und dritter Ehe heiratete sein Vater die Schauspielerinnen Jenny Gröllmann und Susanne Lothar, alle drei sind in der Ausstellung zu sehen.

Mal als lebensechte Büsten, mal als Larger-than-Life-Fotografie von ebendiesen mit ultramarinblauen Augen, wie sie Sarkophage der ägyptischen Antike dekorieren. Schließlich geht die Sezierung Mühes seiner Familie so weit, einzelne Gliedmaßen öffentlich zu archivieren. „Jenny Arm Links“, „Günther Arm Rechts“ – so führt sie die Werkliste, ganz archäologischer Arbeitsweisen getreu.

Neu ist das Material Porzellan, er arbeitete dafür mit der traditionsreichen Manufaktur Rosenthal zusammen, deren Lagerräume auch Thema einer Fotografie sind. In vielen Abgüssen, aufgereiht in den atmosphärisch kühlen, grau nüchternen Räumen der Werkstattgalerie Hermann Noack, entfalten diese Werke eine Wirkung, wie sie idealer schwer vorstellbar ist.

Mit dem Wissen darum, dass die Abgebildeten noch keine zwanzig Jahre tot sind, kann vieles verständlich werden. Was das etwa heißt, naturgetreue Porträtplastik: immer auch Archivarbeit. Wie sehr unsere Sehgewohnheiten von gelblich angefressenen römischen Kaiserporträts und Renaissanceskulpturen belegt sind, gegen die Mühes Arbeiten aus einem Genlabor der Zukunft zu kommen scheinen. Und wie viel Entschlossenheit es gebraucht haben muss, so in den Nahkampf mit den verstorbenen Eltern und sich selbst zu gehen.

Mühe ist derjenige der beiden, dessen Karriere schneller Flügel wuchsen

Die Malerei des aus Toulouse stammenden Künstlers Emmanuel Bornstein, dessen Familie wiederum eng mit dem Schicksal der Schoah verknüpft ist, strahlt knallbunt. Und entzieht sich über die Serie „Another Heavenly Day“ hinweg auch nach mehreren Anläufen einer allzu klaren Zuordnung. Der Stil Francis Bacons ist darin zu entdecken, Siebdruckoptik, der frühe Expressionismus.

Trotz dieser oberflächlichen Grundverschiedenheit stehen Bornsteins stets 30 Zentimeter im Quadrat großen Porträts Mühes Arbeiten nicht nur gleichberechtigt gegenüber, sondern stimmen auch in deren Erzählung ein. Allerdings mit invertierten Mitteln. So zeigen sie nicht die faktische Beschaffenheit historischer Persönlichkeiten, sondern deren Wesen und Ausdruck und bilden nicht seine Familie ab, sondern deren Peiniger.

Adolf Eichmann ist gleich zu Beginn im Foyer zu sehen, und unter den Abgebildeten findet sich auch Klaus Barbie: Der ehemalige Gestapo-Chef von Lyon folterte Gefangene in der dortigen École de Santé des Armées, wo Bornsteins Großmutter ab 1944 inhaftiert war. Was es für Bornstein bedeutet haben muss, diesen Mann zu malen, zu rahmen, auszustellen? Er überzieht sein Profil mit Farbschlieren, aber lässt ihm seinen stolzen Blick. Mit wem man es sonst genau zu tun hat, lässt er bewusst offen. Wladimir Putin, Sean-Marie Le Pen, Thomas Mann, Beckett – Vor- und Feindbilder stehen sich hier gegenüber.

Auf die Frage, wer von beiden in diesem Stück Vladimir und wer Estragon sei, die beide Protagonisten von Becketts „Warten auf Godot“ sind, antwortet Bornstein diplomatisch: Zwar sei Estragon natürlich der französisch klingende Name, aber einer eindeutigen Definition seiner Charaktere habe sich schon Beckett selbst entzogen. Mit solchen Ungewissheiten muss man, geht es um Kunst, manchmal leben lernen. Noch besser ist es, wenn man sie lieben lernt.