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Heimtheater für alle

Die Streamingangbote der Berliner Theater stoßen auf großes Interesse – und das sogar über Deutschland hinaus. Die aktuellen Zahlen belegen das

Von Nicholas Potter

Die einen bejubeln sie als Demokratisierung des Theaters, die anderen verteufeln sie als Verramschen der Kunst: So oder so sind Streamingangebote dank der Pandemie aktuell die einzige Möglichkeit, Theater zu erleben. Dabei ist das digitale Programm vieler Häuser ein vielfältiges: von neuen interaktiven Onlinekonzepten wie Christopher Rüpings „Dekalog“ bis hin zu Archivaufnahmen älterer Klassiker wie Brechts 1957 aufgezeichnete „Mutter Courage“ mit Helene Weigel am Berliner Ensemble.

Solche Streamingangebote stoßen zum Teil auf großes Interesse: Eine coronabedingte virtuelle Edition des diesjährigen Berliner Theatertreffens Anfang Mai zählte über 122.000 Abrufe während des Festivals. Aber hält dieser Trend oder klingt er mit den Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen ab?

Zu Beginn des Lockdowns war ich sehr begeistert von den Möglichkeiten solcher Angebote. Gestreamte Aufzeichnungen können Liveperformances natürlich nicht ersetzen: Es fehlt die allumfassende Aura, die bestechende Energie, die versteckten Nuancen einer Performance. Auch neue digitale Liveformate können nicht immer überzeugen: Langsam reicht es mit den Zoom-Performances. Trotzdem gibt uns Streaming eine Chance, eine teils elitäre, unzugängliche Theaterwelt zu demokratisieren, dachte ich. Eine Chance, neue Onlineformate zu erproben. Eine Chance, Theatergeschichte digital erleben zu können.

Mit der Zeit ist diese Euphorie nach und nach verschwunden. Langsam muss ich feststellen, dass nicht wenige Theateraufnahmen sich nur mit Mühe und Leidenschaft zu Ende schauen lassen. So bleiben sie leider nur ein Vergnügen für hart gesottene Theaternerds. Denn je nachdem wie (gut) eine Inszenierung aufgezeichnet wurde, erfordert sie eine Menge Vorstellungskraft: Wie hätte diese Performance „in echt“ ausgesehen, gewirkt, gefesselt? Da hilft die eigene jahrelange Theatererfahrung, die jedoch nicht jede*r hat. Eine Demokratisierung also nicht.

Diese vergängliche Euphorie hat aber auch einen anderen Grund: Ein Vorteil von Strea­ming ist seine örtliche und zeitliche Flexibilität. Allerdings werden die Aufzeichnungen vieler Häuser nur für 24 Stunden oder gar weniger online zur Verfügung gestellt. Das hat seine Gründe: Wenn alle schon das ganze Repertoire gebingewatched haben, kommt vielleicht keine*r mehr nach der Krise. Trotzdem ist es eine verpasste Chance des digitalen Mediums. Und mit den Lockerungen der Schutzmaßnahmen verpasse ich immer häufiger die engen Streamingzeitfenster.

Die Zahlen bestätigen zum Teil meine persönliche Erfahrung: An der Berliner Schaubühne nehme die Zahl der Zuschauer*innen vor allem seit den Lockerungen langsam ab, heißt es auf taz-Anfrage. Bislang war das Interesse am Online-Ersatzspielplan groß: Auch wenn ihre Aufzeichnungen jeweils nur zwischen 18.30 und 0 Uhr abrufbar sind, sehen im Schnitt 6.000 Zuschauer*innen die gestreamten Aufzeichnungen. Der Rekord bislang: Thomas Ostermeiers Inszenierung von „Hamlet“ mit Lars Eidinger in der Hauptrolle, die beeindruckende 37.000 Zuschauer*innen locken konnte. Mit ihrem digitalen Programm erreicht die Schaubühne ein breites internationales Publikum: Nach Deutschland kommen die meisten Zuschauer*innen aus Russland und Griechenland, gefolgt von Großbritannien, den USA und der Türkei. „Wir haben sehr viele positive Rückmeldungen von internationalem Publikum und eine große Nachfrage danach auf Social Media“, sagt Katharina Glögl, Pressesprecherin der Schaubühne.

Ähnlich international sieht es beim Maxim Gorki Theater aus: Im Schnitt benutzen knapp 30 Prozent der Zuschauer*innen die englischen Untertitel, sagt das Haus auf taz-Anfrage. Bei „Mephistoland“ des ungarischen Regisseurs András Dömötör lag diese Zahl sogar bei 43 Prozent. Im Schnitt verzeichnet das Haus 3.500 Aufrufe in den 24 Stunden, die jede Aufzeichnung online ist. Diese Zahl bleibe aber trotz der Lockerungen stabil.

Streaming gibt uns eine Chance, eine teils elitäre Theaterwelt zu demokratisieren

Die meisten Klickzahlen gab es bei Falk Richters 2016 Inszenierung „Small Town Boy“ mit über 6.700 Aufrufen. Das Gorki versuche aber, mit der Auswahl der Streams Themen zu setzen, erklärt Pressesprecher Nemezjusz Kasztelan. „Das stößt auf positive Resonanz bei den Zuschauer*innen: Zum Beispiel streamten wir zum Internationalen Roma Day ‚Roma Armee‘, zum Gedenktag an den Völkermord an den Armenier*innen Arsinée Khanjians ‚Auction of Souls‘ oder am Tag der Pressefreiheit ‚Hrant Dink (Ge)Denken‘ mit Can Dündar.“

Auch kleinere Bühnen, wie das Kinder- und Jugendtheater Grips erreichen viele Zuschauer*innen mit ihrem Onlineprogramm: 1.500 Menschen besuchen den Grips-Blog täglich. Im Schnitt würden die Kinderstücke, die eine Woche online sind, 1.000 Mal abgerufen, heißt es. Auch hier ist keine Spur von den Lockerungen zu entdecken: Die Zahl nehme sogar zu. Der Berlin-Revue-Klassiker „Linie 1“ sei bislang das erwartbare Spitzenstück mit 2.500 Aufrufen in 48 Stunden, sagt Anja Kraus, Pressesprecherin des Grips.

Egal, wie man zu den Streamingangeboten von Theatern steht, es lässt sich nicht leugnen, dass sie auf großes Interesse stoßen. Das ist eine Bereicherung für die Kunstform: Denn Theater lebt durch Austausch.

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