: Kompromisslos
THEATER Prinzip der autonomen Stimmen – Heiner Goebbels, Intendant der am kommenden Wochenende beginnenden Ruhrtriennale, im Porträt
■ Heiner Goebbels: 1952 geboren, lebt in Frankfurt am Main. War 1976 Mitbegründer des Linksradikalen Blasorchesters. Schrieb in den 80ern Hörspiele und Theatermusiken für Hans Neuenfels, Claus Peymann und Ruth Berghaus. Seit den 90ern entwickelt er eigene Musiktheaterstücke, darunter „Industry and Idleness“, „Stifters Dinge“. Bis 2014 ist er Leiter der Ruhrtriennale.
■ Ruhrtriennale: Eröffnet am 17. 8. in der Jahrhunderthalle Bochum mit Goebbels’ Inszenierung von John Cages „Europeras 1 & 2“. Am 26. September folgt sein eigenes Stück „When the mountain changed its clothing“, an dem sich 40 Mädchen der Carmina Slovenica aus Maribor beteiligen.
VON REGINE MÜLLER
Heiner Goebbels wirkt nicht gestresst. Dabei steht er kurz vor dem Start seiner ersten Ruhrtriennale, bei der er nicht nur als Intendant fungiert, sondern die Eröffnungspremiere von John Cages „Europeras 1&2“ auch selbst inszeniert. Sein Intendantenbüro in der Gelsenkirchener Festivalzentrale ist wenig repräsentativ, hier wird gearbeitet, die Papiere stapeln sich. Zum Gespräch bittet er an den Besprechungstisch, das aufgeklappte MacBook steht griffbereit. Da schaut er rasch mal nach, als sich die Frage auftut, wann und wo „Europeras“ zuletzt gespielt wurde.
Goebbels spricht bedächtig und wirkt entspannt, der Blick ist aufmerksam, hoch konzentriert. Der neue Intendant der Ruhrtriennale ist kein Zampano, kein Intendanten-Alphatier alter Schule und keiner, der breitbeinig die Werbetrommel schlägt und mit griffigen Formeln punktet. Sein Understatement ist echt. Aber auf dem Grund dieser entwaffnenden Gelassenheit spürt man eine hartnäckig flackernde Neugierde und den Furor der Kompromisslosigkeit.
Offene Ästhetik
Goebbels’ Amtsvorgänger Jürgen Flimm und Willy Decker suchten ihr programmatisches Heil noch in Generalthemen, mit denen sie ihre Spielzeiten überschrieben, und kauften zum Teil kassenwirksame, gängige Produktionen des internationalen Festivalzirkus ein. Goebbels setzt dagegen voll auf das Risiko einer nach allen Seiten hin offenen Ästhetik. Das Programm liest sich erfreulich sperrig und entzieht sich jedem Vergleich. Vor allem räumt Goebbels der Konfrontation mit der bildenden Kunst großen Raum ein. Auf ein Motto verzichtet er ganz bewusst: „Ich finde ein Thema zu eng. Es ist durchaus so, dass sich mehrere Themen ergeben, weil sich die Künstler mit ähnlichen Fragen beschäftigen. Aber ich möchte lieber deren Themen entdecken, als sie ihnen vorzugeben.“
Goebbels’ zentrales Anliegen ist ein Musiktheater im weitesten Sinne, sein Denken ist genuin musikalisch: „Die Musik ist schlecht wegzudenken, selbst wenn wir über Sprache sprechen. Weil auch das Inszenieren von Texten musikalische Fragen berührt, Fragen des Rhythmus, des Kontrapunkts, der Polyphonie, der Form.“ Seine eigenen Stücke vergleicht Goebbels gern mit der musikalischen Form der Fuge, die ohne Hierarchien auskommt und die Regel der Gleichzeitigkeit autonomer Stimmen verfolgt. Das utopische Moment liegt dabei in der Form.
Als Goebbels sein Amt bei der Ruhrtriennale antrat, baute er erst einmal systematisch hierarchische Strukturen ab, die seiner an freien Produktionsformen erprobten Arbeitsweise entgegengestanden hätten. Im Team gilt die Devise der Selbstverantwortung: „Am radikalsten wird diese Art von demokratischer Struktur oder Gleichberechtigung vielleicht bei Europeras sichtbar. Weil es da qua Komposition festgelegt ist, dass alle Gewerke im Grunde zunächst ganz für sich arbeiten müssen oder, besser gesagt, dürfen. Das vermittle, moderiere, ja komponiere ich dann vielleicht – in einem sehr weit gefassten Kompositionsbegriff. Aber dazu gehört eben auch das Eigenleben der Elemente.“
John Cages Musiktheater mit dem mehrdeutigen Titel „Europeras 1&2“ (sprich: your operas) von 1987 ist eine süße Rache an der Gattung Oper: In 32 Bildern hat Cage aus 128 Opern Zitate und Klangfetzen herausoperiert, deren Wahl er weitgehend dem Zufallsgenerator des chinesischen Orakels I Ging überließ. 10 Opernsänger, 30 Instrumentalisten und 60 Assistenten werden die Bochumer Jahrhunderthalle nicht nur mit musikalischen Versatzstücken aus mehr als 200 Jahren Operntradition bespielen, sondern auch Bühnenbilder, Figuren und Gesten aus dem Fundus des Genres, herausgerissen aus ihrem ursprünglichen Kontext, neu beleben.
Der Zufall ist der eigentliche Meister dieses Abgesangs an die Oper. Und damit die Macht eigenmächtig ablaufender, unbewusster, intuitiver Prozesse. Für Goebbels kein Widerspruch zum Kunstcharakter der Veranstaltung: „Ich glaube, dass gute Kunst sich immer dadurch auszeichnet, dass das Unbewusste des Künstlers darin zum Ausdruck kommt. Kunst, die nur aus strategischer Absicht besteht, ist als solche dann auch durchschaubar. Und ihr fehlt das Geheimnis. Ein Kunstwerk muss sich diesen Rätselcharakter erhalten. Und immer einen Rest, der sich nicht verstehen und erklären lässt.“
Wie ein Fanal gegen die boomende Vermittlungsindustrie und die längst inflationär gewordenen Bemühungen, rund um die Hochkultur die sogenannten Schwellenängste abzubauen, klingt das Projekt mit dem erfrisch provozierenden Titel „No Education.“ Auch und gerade Kindern wird zugetraut, „ohne Sinnzwang“ Eindrücke zu sammeln. „Es gibt keinen Grund, einem Zuschauer Komplexität zu ersparen“, heißt es stichelnd im Programmbuch. Ein mutiger Satz in Zeiten mundgerechter Häppchenkultur und am Mainstream ausgerichteter Sommerfestivals. Der politisch denkende Künstler Goebbels sieht seine Aufgabe nicht darin, Botschaften hinauszuposaunen, sondern „in einer Ermächtigung des Zuschauers. In der Haltung, ihn eben nicht für dumm zu verkaufen, sondern ihm ein eigenes Urteil zuzutrauen.“
Wucht der Konfrontation
Auch dem pädagogischen Impetus misstraut Goebbels gründlich: „Wir dürfen doch als Professionelle – und das sage ich auch als Theaterwissenschaftler – einfach nie unseren internen, fachlichen Blick verwechseln mit der unmittelbaren Chance des Zuschauers, einem Werk unvoreingenommen gegenüberzustehen. In dem Moment der Konfrontation passiert doch etwas. Wenn Sie zum Beispiel vor einem Kunstwerk stehen und entdecken: Das ist ja gar nicht das, was es zu sein scheint. Ich finde es regelrecht gemein, dem Zuschauer das durch eine Erklärung wegzunehmen.“
Auf die Wucht der Unmittelbarkeit setzt Goebbels auch bei dem Projekt „12 Rooms“ im Essener Museum Folkwang, das einen Performance-Parcours mit Kunstgrößen wie Marina Abramovic, Maurizio Cattelan, Santiago Serra und Damien Hirst zeigen wird. In der aktuellen Renaissance der Performance-Kunst sieht Goebbels „die Wiedergutmachung gegenüber der medialen und virtuellen Glätte, mit der wir zunehmend umstellt sind“.
Noch nie in ihrer zehnjährigen Geschichte ist die Ruhrtriennale mit so viel Mut zum Experiment programmiert worden. Die ursprüngliche Idee, die auratischen Räume nicht nur zu bespielen, sondern zu befragen und die Reibung mit ihrem sozialen Kontext im Ruhrgebiet zu suchen, wurde noch nie so konsequent und radikal umgesetzt. Es verspricht, aufregend zu werden. Und die Furcht, das Unternehmen könne zum hermetischen Insidertreff schrumpfen, scheint schon jetzt unbegründet: Die Premiere von „Europeras“ und etliche weitere Veranstaltungen sind seit Monaten ausverkauft.