: Der Judenmord von Neustadt
Über 200 Gefangene des KZ Stutthof wurden am Morgen des 3. Mai 1945 in Neustadt ermordet. Sie sollten nach ihrer Überfahrt von Danzig nach Holstein eigentlich auf die „Cap Arcona“, aber das Schiff war überfüllt. Bis heute wurde keiner der Täter ausfindig gemacht
Von Simone Schnase
David Ackermann wurde Ende 1945 auf eine „Todesfahrt“ geschickt: Der litauische Jude wurde aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig von den Nazis in einem Lastkahn über die Ostsee nach Neustadt in Holstein gebracht. „Auf dem Schiff war es so eng, manche starben schon wegen der Enge“, erzählte der per Video aus Israel zugeschaltete Ackermann vorletzte Woche beim Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Bruno D. vor dem Hamburger Landgericht. Von den 350 Menschen, die mit ihm auf dem Boot gewesen seien, hätten vielleicht hundert die Fahrt überlebt.
Im Schatten der „Cap Arcona“-Katastrophe steht die Ermordung von über 200 Stutthof-Häftlingen, die die gleiche Todesfahrt ertragen mussten wie Ackermann. Sie sollten eigentlich auf die „Cap Arcona“ verfrachtet werden, aber das Schiff war bereits überfüllt. Dieser Umstand hätte ihnen zur Flucht verhelfen können, aber die Männer, Frauen und Kinder kamen nicht weit.
„Einige“ von ihnen seien erschossen worden, behauptete vor Gericht Bruno D. Auch er hatte das KZ Stutthof, wo er Dienst auf den Lagertürmen verrichtet hatte, mit einem jener Schiffe voller Gefangener Richtung Holstein verlassen. Was D. als Erschießung „einiger“ bezeichnet, war in Wahrheit ein gezieltes Massaker.
Wegen des Vorrückens britischer Soldaten verließen die SS-Männer, die die Gefangenen aus Stutthof bewachten, die Lastkähne. Die Schiffe trieben bei Neustadt ans Ufer, wo sich die Häftlinge am frühen Morgen des 3. Mai auf die Suche nach Nahrungsmitteln machten. Statt ihnen zu helfen, trieben Neustädter Bürger, Angehörige der Kriegsmarine, einer Versehrteneinheit und des Volkssturms in einer sogenannten „Sammelaktion“ die Menschen zusammen und erschossen mindestens 208 von ihnen.
Wilhelm Lange, Leiter des Neustädter „Cap Arcona“-Museums, spricht vom „Judenmord in Neustadt/Holstein“, denn die meisten der Getöteten waren Juden. „Es gibt Berichte und auch Fotos, die nahelegen, dass an dem Mord auch Zivilisten beteiligt waren“, sagt er. Hinzu komme, dass die Grenze zwischen Zivilisten und Militär beim „Volkssturm“ ohnehin fließend gewesen sei: „Der Leiter des hiesigen Volkssturms war von Beruf Zahnarzt.“
Die Mörder kamen ungeschoren davon: Seit Ende der 1980er-Jahre suchte der Lübecker Oberstaatsanwalt Günter Möller erfolglos nach den Verantwortlichen für das Massaker. Die Ermittlungen gegen mögliche Täter wurden 2015 eingestellt. Keiner der beteiligten Deutschen wurde ausfindig gemacht.
Allerdings seien die Gruppierungen bekannt, die diese „Sammelaktion“ durchgeführt hätten, sagt Lange. Sie stammten unter anderen aus der ehemaligen Marinekaserne am Sandberger Weg. Befragte Zeitzeugen hätten bewusst weggesehen: „Vor drei Jahren haben Jugendliche in Neustadt einen Projektfilm gemacht und Zeitzeugen befragt – und obwohl der Strand damals voller Leichen lag, sagten sie, sie hätten nichts gesehen.“
Die staatsanwaltschaftlichen Akten befinden sich seit der Einstellung des Verfahrens im Landesarchiv. Sie umfassen unter anderem Personenermittlungen und -vernehmungen aus der Zeit von 1949 bis 1986. Eine Einsichtnahme ist wegen der gesetzlichen Schutzfrist von 60 Jahren nicht vor Ablauf des Jahres 2046 möglich.
Als Makel empfunden
In Neustadt und entlang der Neustädter Bucht wird an vielen Orten der Toten vom 3. Mai 1945 gedacht – auf besondere Art auch der ermordeten Häftlinge aus Stutthof: Der Weg entlang des Ehrenfriedhofs „Cap Arcona“ erhielt den Namen Stutthof-Weg. Die Namenserklärung des Straßenschilds allerdings behauptet, die Menschen seien „von ihren Bewachern“ ermordet worden. Nur auf den Stelen des am Strand befindlichen „Informationsdecks“ werden die Tätergruppen expliziter genannt und es wird über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens informiert.
Das soll sich nun ändern: Vier neue Informationstafeln sind fertig, um direkt am Stutthof-Weg aufgestellt zu werden. Sie müssten, so Lange, nur noch genehmigt werden. Eine davon thematisiert den Mord an den Stutthofer KZ-Häftlingen. „Die Erinnerung daran ist lebendig“, sagt Lange, „aber es gibt hier Nachkommen der Täter – deswegen wird das Thema offenbar noch immer als Makel empfunden.“
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