Die Chronistin von Wuhan

Fang Fang hat den größten Lockdown in der Geschichte poetisch begleitet. Für das internationale Interesse an ihrer Arbeit wird die Schriftstellerin nun in China angefeindet

Von Fabian Kretschmer

Fang Fangs rund 60 Tagebucheinträge, verfasst zwischen Ende Januar und Ende März, folgen stets einer simplen Maxime: „Als Zeugen, die wir die tragischen Tage von Wuhan miterlebt haben, sind wir verpflichtet, für diejenigen Gerechtigkeit einzufordern, die gestorben sind.“ Jene Gerechtigkeit forderte die 64-jährige Schriftstellerin mit deutlichen Worten ein, indem sie das heroische Narrativ der Kommunistischen Partei als Virusbekämpfer mit weißer Weste in Frage stellte.

Millionen Chinesen folgten in jener chaotischen Zeit den Anekdoten und poetischen Gedankenstrichen Fang Fangs, mit denen die in China bekannte Autorin den Lockdown ihrer Heimatstadt verarbeitet: „Es wird gesagt, dass viele Menschen erst jetzt aufwachen und begreifen, dass es sinnlos ist, jeden Tag leere Slogans darüber zu brüllen, wie fantastisch unser Land doch ist“, schreibt sie am 4. Februar. Nachdem ihre kritischen Einträge auf sozialen Medien zunehmend von den staatlichen Zensoren gelöscht werden, bietet sich das chinesische Magazin Caixin als publizistische Heimat an.

1955 geboren, zog Fang Fang schon als Kleinkind in die Provinzhauptstadt Hubeis, die sie seither Heimat nennt. Sie wuchs auf in den Wirren der Kulturrevolution, einer kollektiven Psychose, in der ein jeder für eine achtlose Bemerkung bereits als „konterrevolutionär“ gebrandmarkt und zur Zwangsarbeit in abgelegene Provinzen geschickt werden konnte. Nach den Lockerungen und der relativen Freiheit der achtziger Jahre beobachtet die 64-Jährige nun unter Präsident Xi Jinping erneut eine ideologische Aufladung des öffentlichen Diskurses.

Fang Fang funktioniert als Ventil für die Wut der Chinesen gegen die Lokalregierung, die durch Vertuschungsaktionen und Inkompetenz die Gefahr des Virus verschleppten. Als solches Ventil wurde sie bislang auch vom Regime geduldet, solange die Kritikerin gewisse Grenzen nicht überschritt.

Das Blatt wendete sich jedoch, als der weltweit zweitgrößte Publikumsverlag, Harper Collins, ankündigte, die Wuhan-Tagebücher im August in Buchform publizieren wollen. Noch zuvor soll eine deutsche Version bei Hoffmann und Campe Anfang Juni erscheinen. Seither wütet ein Shitstorm gegen Fang Fang, in dem die einzige Volksschriftstellerin plötzlich vom aufgebrachten Internet-Mob als „Verräterin“ und „Marionette des Westens“ gebrandmarkt wird.

An ihrem Beispiel lässt sich exemplarisch die Scheinheiligkeit der chinesischen Zensurbehörden erkennen: Diese löschen zwar sämtliche kritischen Tagebucheinträge der Autorin, genau wie unterstützende Kommentare. Beleidigungen gegen Fang Fang, auch der übelsten Art, bleiben hingegen unangetastet. Etwa: „Gäbe es das Virus nicht, würde niemand dieser alten, hässlichen Frau irgendeine Beachtung schenken.“ Auf diesem Wege vollzieht die Kommunistische Partei indirekt, was ihr Chef Xi Jinping „Lenkung der öffentlichen Meinung“ nennt.

Auch die staatliche Global Times, deren Chefredakteur Hu Xijin einst noch die Toleranz gegenüber Fang Fangs Tagebüchern gefordert hatte, wittert eine ausländische Verschwörung. Dass der deutsche Buchverlag etwa die Wuhan-Tagebücher ursprünglich am 4. Juni veröffentlichen wollte; jenem Datum, an dem sich in China „politische Turbulenzen“ – das Tian­anmen-Massaker darf das Propagandaorgan nicht beim Namen nennen – ereigneten, kritisierte er. Zudem zitiert die Global Times einen Professor der Universität Peking, wonach das Buch vom Westen eines Tages als „glaubwürdiges Beweismittel“ für Schadenersatzforderungen gegen China genutzt werde.

Nutzer im Netz fragen: „Wie kann es sein, dass innerhalb so kurzer Zeit Verträge mit ausländischen Verlagen abgeschlossen und Übersetzungen autorisiert werden?“. Was jene Poster offenbar nicht wissen: Die 64-Jährige hatte zuvor auch von zehn chinesischen Verlagen Buchangebote erhalten. Angesichts der Kontroverse haben jedoch alle kalte Füße bekommen.