piwik no script img

„Wir alle müssen improvisieren“

Auch die Bremer Messe Jazzahead! wurde wegen der Coronakrise abgesagt. Um den Jazz selbst macht sich deren künstlerischer Leiter Ulrich Beckendorff aber wenig Sorgen. Denn in der Szene habe man Erfahrung darin, sich auf neue Situationen einzustellen – und sich selbstbewusst relevant zu machen

Jazzer*innen spielen nie allein: Boticelli Baby auf der Jazzahead! im vergangenen Jahr Foto: Frank Thomas Koch

Interview Jan Paersch

taz: Herr Beckerhoff, die Kultur leidet weltweit unter der Corona­krise. Aber hat man in der Jazzszene nicht schon vor dem Shutdown viel gejammert?

Ulrich Beckerhoff: Wir haben in Deutschland eine der besten Jazzszenen der Welt. Seit 15 Jahren gibt es die Messe Jazzahead!, man kann an 18 Hochschulen Jazz studieren, es gibt 350 Jazzfestivals in Deutschland. Das gibt es in kaum einem anderen Land. Aber: Die ganze Welt will hier spielen. Die Konkurrenz ist enorm. Nach einer Umfrage verdienen 75 Prozent aller professionellen Jazzmusiker hierzulande nur 1.200 Euro im Monat.

In einem normalen Jahr hätte an diesem Wochenende in Bremen die Jazzahead! stattgefunden, deren künstlerischer Leiter Sie sind. Was vermissen Sie am meisten?

So eine Messe bereitet man ein ganzes Jahr lang vor. Ich vermisse den Moment, in dem sich endlich die Türen öffnen. Obwohl die Jazz­ahead! mittlerweile zur größten Jazzmesse der Welt herangewachsen ist, hat es etwas von einem Familientreffen. Es kommen viele Leute, die ich schon seit Jahren kenne – wenn ich die sehe, löst sich die Spannung des ganzen Jahres.

Es ist traurig, aber das Festival wird nun verschoben: So haben alle 40 Showcase-Bands erfreulicherweise zugesagt, im nächsten Jahr zu kommen.

Das Festival konnte verschoben werden. Aber die Situation der JazzmusikerInnen, die hauptsächlich von Live-Auftritten leben, ist katastrophal. Die Politik hat in manchen Bundesländern mit Soforthilfen für selbstständige KünstlerInnen reagiert.

Aber reichen diese Soforthilfen denn?

Ich bin selber Musiker und habe viele Auslandskontakte, da merkt man, dass wir ganz gut aufgestellt sind. Die Kulturstaatssekretärin Grütters kümmert sich. Die Soforthilfe ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber gerade für junge Musiker, die keine weiteren Einnahmequellen haben, ist so eine Überbrückung ein Anfang. Sie dürfen nicht vergessen: Die Durchschnittsgagen für Jazzmusiker sind ohnehin nicht besonders hoch. Aber natürlich sind die Ängste da. Es ist noch nicht einmal sicher, ob nach dem Sommer kleine Läden öffnen dürfen. Klubs wie das Birdland in Hamburg sind schließlich schon mit 100 Leuten pickepackevoll.

In der gesamten Kulturszene wird es einschneidende Veränderungen geben. Machen Sie sich Sorgen um die Vielfalt der Jazzszene?

Es ist derzeit immer von „Systemrelevanz“ die Rede. Und wenn jemand damit umgehen kann, sich relevant zu machen, dann Jazzmusiker. Das Zentrum des Jazz ist Improvisation! Dieser Begriff wird von Jazzern mit großem Stolz verwandt, ein Großteil ihrer Musik ist aus dem Stegreif mit einer Band erfunden. Diese enge Zusammenarbeit ist eine Eigenart des Genres. Die großen Stars wie Miles Davis und John Coltrane haben nie etwas alleine gemacht, da waren immer andere, die mit zu der Kunst beigetragen haben. Jazz steht für Teamwork, wie es sie beispielhafter gar nicht geben kann. Improvisation ist eine Haltung, und dafür sind Jazzmusiker prädestiniert. Die Situation ist furchtbar, aber Jammern hilft nicht. Wir alle müssen damit umgehen. Auch Homeoffice ist Improvisation.

Foto: Frank Pusch

Ulrich Beckerhoff, 72, ist Jazztrompeter und -flügelhornist. Ab 1991 war er Professor für Jazztrompete und Ensembleleitung an der Folkwang-Hochschule in Essen. Gemeinsam mit Peter Schulze ist er künstlerischer Leiter der Messe Jazzahead!.

Die Läden haben geöffnet, bald beginnt wieder die Bundesliga. Kommt die Kultur immer zuletzt?

Wenn man der Krise irgendetwas Positives abgewinnen mag, dann vielleicht, dass sich im Bewusstsein unserer Gesellschaft etwas ändern könnte. Unser System basiert auf ständigem Wachstum. Jetzt merkt man: Es gibt etwas darüber hinaus, das nur Kultur bieten kann. Theater, Tanz, Museen, Musik – das ist systemrelevant, aber die meisten Leute merken es nicht, weil sie mit Geldverdienen beschäftigt sind. Ernährung, Wohnen, Ausbildung – alles wichtig. Aber Kultur sollte auf demselben Level sein.

Jazz ist also wichtig für die Menschen?

Ich werde oft gefragt, was Jazz ist. Jazz war die erste Weltmusik, lange, bevor es den Begriff gab. ­Afrikanische Rhythmik mit europäischer Harmonik, und das in Nordamerika! Wichtig ist ein großer Anteil an Improvisation. Das ist etwas, was auch der Zuhörer spürt. Auf Konzerten passiert immer Unvorhergesehenes! Da kann man live nachspüren, auf welchen Pfaden die Musiker sich bewegen. Das ist einmalig! So wie es immer Kinder geben wird, die im Sandkasten spielen, wird es immer Jazz geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen