corona in bremen: „Wenn ich gehorche, stimme ich zu“
Svantje Guinebert,
Philosophin an der Uni Bremen, hat in ihrer Dissertation nachgewiesen, dass Hörigkeit Selbstboykott bedeutet.
Interview Dominika Vetter
taz: Frau Guinebert, entweder wir gefährden die Wirtschaft und dadurch mittelbar das Wohl der Bevölkerung. Oder wir nehmen in Kauf, dass Menschen infolge von Überlastungen des Gesundheitssystems sterben könnten. Ist das ein moralisches Dilemma?
Svantje Guinebert: Wenn man es so formuliert, ja. Die Coronapandemie sorgt für große Verunsicherung, weil wir viel über das Virus gar nicht wissen. Und dann liegt es nahe, Alternativen einander gegenüber zu stellen, die erst mal nach Klarheit klingen, wie hier auf der einen Seite die Wirtschaft und auf der anderen Seite eine höhere Anzahl von Toten. So ohne Weiteres kann man das aber nicht, denn beide Bereiche wirken ineinander. Ein medizinisch notwendiges Kontaktverbot kann wirtschaftliche Konsequenzen haben, die wiederum die Gesundheit Einzelner beeinträchtigen können.
Was wäre aus moralphilosophischer Sicht denn jetzt entscheidend?
Wir unterscheiden zwischen Pflichtethiken und konsequentialistischen Ethiken. Einer Pflichtethik zufolge gibt es Handlungen, die geboten oder verboten sind, weil sie an sich gut oder falsch sind. Einer konsequentialistischen Ethik zufolge kommt es darauf an, was das Ergebnis einer Handlung ist. Unter großer Unsicherheit ist es naheliegend, im Sinne der Pflichtethik zu denken: Wir können nicht alles im Blick haben, aber unbedingt geboten ist, Menschenleben zu retten. Erst wenn klar wird, welche Auswirkungen entsprechendes Handeln haben kann, wird deutlich, dass wir uns anschauen müssen, welche Kriterien außerdem wichtig sind. Wir wollen Leben retten, aber auch Menschen schützen, die nicht unter Corona, sondern anderen Gefahren leiden.
Die Lage verunsichert viele, und wir richten unser Handeln derzeit stark an Autoritäten wie Herrn Drosten oder dem Bürgermeister aus. Ist das problematisch?
Wir müssen zwischen Autoritätshörigkeit und Autoritätsgehorsam unterscheiden. Hörig wären wir, wenn wir die Entscheidungsgewalt abgeben: Die Autorität hat es gesagt, basta. Durch das Befolgen eines Gesetzes äußere ich aber eine eigene Entscheidung: Wenn ich gehorche, stimme ich damit zu. Entscheidungen treffen muss ich selbst, aber der Weg dahin ist einer, den man gemeinsam besser gehen kann als allein.
Was bringen moralphilosophische Überlegungen überhaupt?
Moralphilosophische Theorien können uns Orientierung bieten. Sie helfen uns, besser zu verstehen, welche Werte zu verhandeln sind. Manches erscheint auf den ersten Blick einfach: Natürlich ist ein Menschenleben wann immer möglich zu retten. Aber in der Praxis unterliegen wir Einschränkungen und dann kann die Frage einschlägig werden, unter welchen Bedingungen ein Leben überhaupt lebenswert ist. Falls wir zu dem Schluss kommen, dass ein Leben unter bestimmten Bedingungen nicht lebenswert ist, hieße das im Blick zu behalten, dass niemand unter eine bestimmte Schwelle rutscht. Dann müssten wir konsequenterweise der Frage, wie es Menschen in den Geflüchtetenlagern geht, eine viel höhere Priorität einräumen, als wir das tun.
Können nicht alle Handlungen, auch etwa ein Kontaktverzicht, negative Auswirkungen für andere haben?
Die eigenen Handlungen können immer negative Konsequenzen für die anderen haben. Auch wenn wir sie nicht alle immer vorhersehen können, sollten wir zumindest versuchen, sie mit zu bedenken und zwischen schlimmen und weniger schlimmen Konsequenzen unterscheiden. Es entbindet mich nicht davon, für mein eigenes Tun einzustehen, dass ich die Konsequenzen nicht überblicke.
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