: Orte, an denen die Eltern der anderen wohnen
Paul Scraton ist für sein Buch „Am Rand – Um ganz Berlin“ um die Stadt gewandertund schildert die oft unterschätzte Bedeutung der Randbezirke für Berlin
Von Detlef Kuhlbrodt
Berlinbücher sind so eine Sache. Meist handeln sie davon, wie interessant und toll die Stadt ist, in der man lebt. Man kennt kaum jemanden, der dies Genre mag, aber viele, die Berlinbücher geschrieben oder herausgegeben haben.
Die meisten pochen darauf, anders zu sein. Vor 40 Jahren bestand das Andere (in Reiseführerreihen wie „Anders Reisen“ usw.) darin, andere als die bislang klassischerweise im Baedeker beschriebenen Orte zu finden und zu beschreiben. Dann begann man zu gehen bzw. die prominenten Orte in Spaziergängen zu verbinden. Lucius Burckhardt begründete in den 1980er Jahren die Promenadologie; der „Spaziergangswissenschaft“ widmete der Martin-Schmitz-Verlag ein Buch.
Vor 1989 fingen Punks nach einer Woche Kreuzberg an zu berlinern und von ihrem Kiez zu sprechen, von dem sich Wessis und Berliner Polizisten gefälligst fernhalten sollten; nach 1989 schrieb eigentlich jeder Journalist, der nach Berlin kam, einen Reiseführer mit ethnologisch leuchtenden Augen. Walter Benjamin wurde so oft zitiert, dass man ihn kaum noch lesen wollte. Irgendwann begann man die Figur des Flaneurs zu hassen.
Zum Glück bemüht Paul Scraton in seinem Buch „Am Rand – Um ganz Berlin“ (Matthes & Seitz) die Figur des Flaneurs nur einmal. Im Winter 2017 hatte sich der englische Autor, der seit 2001 in Berlin lebt, auf den Weg gemacht und Berlin umrundet. 180 Kilometer, geteilt durch zehn Wanderungen. Jede Wanderung endet dort, wo die nächste beginnt. Die Stadtumrundung sollte ihm Antwort auf Identitätsfragen geben. Bis zur Brexit-Abstimmung hatte er sich in seinem Berliner Zuhause „absolut europäisch und wohlgefühlt“. Nun die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen schien ihm unangemessen, in England fühlte er sich auch nicht mehr daheim. Auf seinen Wanderungen ging es ihm darum, sowohl die Geschichten der Berliner Außenbezirke zu entdecken als auch eine eigene Geschichte zu finden. „Je mehr ich entdeckte, desto mehr würde ich mich in dieser Stadt vielleicht heimisch fühlen.“
Es ist zunächst ein Gedankenspiel. In seiner Küche zieht der Autor mehrere Bücher über verschiedene Landstriche Deutschlands, wie „einen siebenhundert Seiten starken Schinken über die Geschichte Berlins, aus dem Regal“ und stellt fest, „dass es keine Einträge für Marzahn, Lichterfelde und Tegel gibt“. Das ist ein klassisch plaudernder Einstieg, in dem ein wenig untergeht, dass „Am Rand“ (das zunächst auf Englisch erschien) ja vor allem auch ein einleuchtendes Buchprojekt ist. Entlang der einstigen Mauer geht Scraton spazieren, also durch Randgebiete, „wo die verwahrloste Ödnis des einen die leere Leinwand für die Fantasie des anderen ist“. Es sind „Orte, an denen Eltern wohnen (immer die Eltern von jemand anderem)“.
Der Herausgeber der Zeitschrift Elsewhere nennt viele Wörter für diese Zwischenwelten: Trevor Rowley hatte in seinem 1931 erschienenen Buch „The English Landscape in the Twentieth Century“ den Begriff „rurban“ für die durch die Eisenbahn erschlossenen Randgebiete geprägt. Marion Shoard nannte sie „edgelands“ und bezog sich dabei auf Gewerbegebiete, Müllhalden und Golfplätze. Richard Mabey sprach in den 1970er Jahren von der „unofficial countryside“.
Gesichts- oder geschichtslos ist der Stadtrand nicht: In Tegel gibt es Statuen von Wilhelm und Alexander von Humboldt, die Kindheit und Alter hier verbrachten; die „Dicke Marie“ im Tegeler Forst ist der älteste Baum Berlins. Vor 11.000 Jahren siedelten am Tegeler Fließ die ersten Menschen; im 13. und 14. Jahrhundert gründeten Germanen Tegel, Hermsdorf und Lübars.
Ein Schild an einer Villa in der Gartenstadt Frohnau weist darauf hin, dass hier Gustav Landauer, der Begründer des kommunistischen Anarchismus, zwischen 1902 und 1908 gewohnt hatte. Eine Gedenktafel in Lübars erinnert an Helmut Qualitz, der im Juni 1990 mit seinem Trecker die Mauer durchbrochen hatte. Wartenberg, Falkenberg und Malchow hatten sehr im Dreißigjährigen Krieg gelitten. Zwischen Lübars und Ahrensfelde gibt es viele Rieselfelder, im Zentrum Marzahns gab es ein Internierungslager für Sinti und Roma, das die Nazis 1936 errichtet hatten.
In Waltersdorf trifft Paul Scraton auf die „Intelligenzsiedlung“, in der zu Zeiten der DDR Künstler gelebt haben. Orangefarbene Stelen erinnern an getötete Mauerflüchtlinge und ihre Geschichten. Scratons liebste Gedenkstätte besteht aus den 9.000 Kirschbäumen am Rande der ehemaligen Mauer, die ZuschauerInnen des japanischen Fernsehsenders TV Asahi gespendet hatten.
Alles Wissenswerte wird erzählt worden sein, wenn der Autor die Stadt umrundet hat. Sympathisch sind die Passagen, wo Scraton Lust hat, mit Leuten zu sprechen, die keine Lust auf Gespräche haben. Angenehm verträumt sind die 24 Stadtrandfotos.
Paul Scraton: „Am Rand – Um ganz Berlin“. Aus dem Engl. von U. Kretschmer. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 207 S., 22 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen