Der unvergessliche Geschmackder Freiheit

Vor 30 Jahren wurden die ersten Häuser in Ostberlin besetzt. Dazu gehörte auch die Linienstraße 206 in Mitte. Sie ist das letzte Relikt einer Bewegung, die die Stadt in Atem hielt

Eine Art Denkmal für die linke Szene: das Haus Linienstraße 206 heute Foto: Stefan Boness/Ipon

Von Uwe Rada

Es war ein Tischler namens Springer, mit dem alles begonnen hat. 1826 ließ er an der Einmündung der ehemaligen „Todtengasse“ in die Linienstraße ein Mietshaus errichten. Vier Geschosse hatte es und eine bauhistorisch wertvolle „hölzerne Treppenanlage um ein nahezu quadratisches Treppenauge“. So steht es in der Denkmalliste des Landes Berlin.

Eine Art Denkmal ist die Linienstraße 206 auch für die linke Szene. Kurz nach dem 1. Mai 1990 wurde das Haus an der Ecke Kleine Rosenthaler Straße, wie die Todtengasse inzwischen heißt, besetzt. Die bemalten Fassaden sind noch heute zu sehen, ein irritierender Kontrast zur durchgestylten Spandauer Vorstadt in Mitte. Und eine Aufforderung, sich noch einmal zu erinnern an eine Zeit, in der in Ostberlin (fast) alles möglich war.

Der lange Sommer der Anarchie begann eigentlich schon im Winter. Am 22. Dezember 1989 hängten die Bewohnerinnen und Bewohner der Schönhauser Allee 20 in Prenzlauer Berg Transparente aus ihren Fenstern – und machten ihre bis dahin stille Besetzung öffentlich. Es war ein Signal an andere, es ihnen gleichzutun. Bis zum Februar 1990 zählte der Telegraph, die Zeitschrift der linken DDR-Opposition, 20 besetzte Häuser. Die meisten von ihnen befanden sich in Prenzlauer Berg. In Friedrichshain waren zu diesem Zeitpunkt nur zwei Häuser besetzt, in Mitte sogar nur eines. Es war die Köpenicker Straße 137, die der Telegraph eine „Ost-West-Besetzung“ nannte. Eine zweite gemischte Besetzung gab es in der Kastanienallee 85/86.

Erstmals beteiligten sich damit auch Leute aus Westberlin an den Besetzungen. „Diese Westbesetzer legten auch noch bedachte Zurückhaltung an den Tag“, lobte der Telegraph in einem Beitrag von 1995. „Sie zollten dem Umstand Rechnung, dass sie in einem fremden Land mit ihnen völlig fremden Verhaltensweisen eine kleine Minderheit waren.“

Doch bald wurde aus der Minderheit eine Mehrheit, und daran war die Oppositionszeitschrift, die aus dem Umweltblättern hervorgegangen ist, nicht ganz unschuldig. Im April verfasste der Telegraph einen Aufruf an „Frauen und Männer aus Ost und West, sich diese Häuser zu nehmen, bevor es zu spät ist“.

„Diese Häuser“, das waren vor allem Gründerzeithäuser in Friedrichshain, darunter auch in der Mainzer Straße und der Rigaer Straße, die statt der Kommunalen Wohnungsverwaltung eine Tochter der „Neuen Heimat“ sanieren und bewirtschaften sollte. Der Aufruf erschien auch im Westberliner Szeneblatt Interim.

Nach dem Aufruf machten sich auch eine Gruppe von Studierenden des Otto-Suhr-Instituts, der Geschichtswerkstatt Lichtenrade und anderen Leuten, die sie kannten, auf die Suche. Und fanden schließlich das Haus des ehemaligen Tischlers namens Springer. Am 5. Mai 1990 wurde die Linienstraße 206 besetzt. Sehr zum Missfallen einer Ostberliner Genossenschaft, die das Haus in der Spandauer Vorstadt vor dem Abriss gerettet hat und selbst nutzen wollte.

Anfang Mai waren in Ost-Berlin bereits 50 Häuser besetzt. Bis August stieg die Zahl auf 120. Die Hoffnung des Telegraph, dass es wie in der „Köpi“ und der Kastanienallee zu weiteren „Ost-West-Besetzungen“ kommen würde, erfüllte sich freilich nicht. „Die Massenbesetzungen wurden fast ausschließlich von Westberlinern vollzogen“, hieß es bald im Telegraph. „Durch diesen Umstand kippte das Verhältnis Ost-West völlig in Richtung Westbesetzer.“

Auch die „Linie“ war ein reines Westhaus. Doch ihre Bewohnerinnen und Bewohner gingen ein Experiment ein. Zusammen mit der Lottumstraße 10A, einem reinen Osthaus, gründete sie einem gemeinsamen Verein namens „Flotte Lotte – flinke Linke“. Bald unternahmen die Besetzer aus beiden Häusern gemeinsame Ausflüge ins Umland und an die Ostsee. Bis heute ist dieser Ost-West-Kontakt der beiden „Schwesterhäuser“ geblieben.

Sich noch einmal erinnern an eine Zeit, in der in Ost­berlin (fast) alles möglich war

Als im November 1990 die Mainzer Straße geräumt wurde, bekam die Linienstraße neue Bewohner. Sie nahm junge Antifas der „Jugendfront“ auf, die zuvor in der Mainzer gelebt hatten. Fortan war in der „Linie“ scherzhaft von den „Kleinen“ und den „Erwachsenen“ die Rede.

Die Räumung war ein Schock für die Ostberliner Besetzerbewegung. Der „B-Rat“ der Besetzerinnen und Besetzer war zu diesem Zeitpunkt längst gescheitert, unter anderem am Ost-West-Konflikt. In Prenzlauer Berg verhandelte ein runder Tisch über Verträge mit den Wohnungsbaugesellschaften. Andere Häuser in anderen Bezirken versuchten ebenfalls zu retten, was zu retten ist.

Auch die Linienstraße 206 bekam 1991 Verträge. Die bewahrten die Bewohnerinnen und Bewohner im Mai 2016 aber nicht vor einer Teilräumung. Für eine Wohnung und einen Gemeinschaftsraum hatten die Eigentümer, zwei Berliner Geschäftsleute, einen Räumungstitel erwirkt. Danach war die Linienstraße in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Inzwischen aber haben sie neue Bewohner wieder zum Leben erweckt. Hinter der bröckeligen Fassade rumort es also wieder. Auch neue Kontakte in die Nachbarschaft wurden geknüpft, heißt es von den Besetzerinnen und Besetzern. Fast klingt es, als ließe sich die Zeit noch einmal zurückdrehen.

Was die Besetzerinnen und Besetzer 1990 erlebt haben

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