„Gefahr, dass Solidarität unter Gleichen bleibt“

Der globale Süden hat nicht die Ressourcen, um den Corona-Lockdown zu bewältigen, sagt Thomas Gebauer von medico international – und fordert eine globale Umverteilung

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Thomas

Gebauerist Sprecher der stiftung medico. Von 1996 bis 2018 war er Geschäftsführer von medico international. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit.

Interview Christian Jakob

taz: Herr Gebauer, die Industriestaaten mobilisieren wegen Corona gigantische Ressourcen. Was droht dem globalen Süden, der diese Ressourcen nicht hat?

Thomas Gebauer: Die Pandemie wird die ohnehin schon herrschende soziale Ungleichheit in der Welt weiter verschärfen. Kaum waren hier die Geschäfte dicht, kam es etwa zur Stornierung von Aufträgen in Textilfabriken, in Pakistan wurden Arbeiter entlassen. In Südafrika fordert die Regierung Social Distancing, in Indien herrscht eine Ausgangssperre. Wie sollen Tagelöhner auf ihre Tätigkeit verzichten? Schon jetzt gibt es deshalb Konfrontationen zwischen armer Bevölkerung und Sicherheitskräften.

Wird diese wirtschaftliche Dimension vernachlässigt und zu sehr auf die medizinische Seite geschaut?

Man darf das nicht gegeneinanderstellen. Auch im globalen Süden fehlen Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Aufklärungsmaterial. Es müssen sehr viel mehr Mittel aus den reichen Ländern zu den armen fließen. Der Corona-Fonds der UNO soll gerademal 2 Milliarden umfassen.

Die Industriestaaten fürchten eine Rezession ungekannten Ausmaßes. Welche Aussicht gibt es, dass sie trotzdem den Entwicklungsländern mehr helfen als bisher?

Im Augenblick dominiert die nationale Perspektive. Um der Krise wirksam begegnen zu können, wird die Welt nicht umhinkommen, über globale Umverteilung nachzudenken. Es ist jetzt oft von Solidarität die Rede. Die Gefahr ist, dass es bei einer Solidarität unter Gleichen bleibt, die einen autoritären Wohlfahrtsstaat befördert, wie in Polen oder Ungarn. Stattdessen ist eine kosmopolitische Solidarität nötig, die sich auch in transnationalen Institutionen niederschlägt. Diese könnten etwa dafür sorgen, dass ein hoffentlich bald entwickelter Impfstoff allen zugänglich gemacht wird.

Aber wäre es im Fall eines Corona-Impfstoff nicht ohnehin so, weil alles andere politisch nicht vermittelbar wäre?

Ja, das Fenster für eine Revision der patentgestützten Pharmaforschungspraxis ist gerade offen. Aber öffentlicher Druck wird nötig sein, wie der Streit um den Wirkstoff Remdisivir zeigt. Der gilt als mögliches Corona-Medikament. Der US-Pharmakonzern Gilead hat versucht, ihn auf die Liste der „Arzneimittel für seltene Leiden“ setzen zu lassen. Dann läuft die Patentzeit länger. Nur der Wachsamkeit der Öffentlichkeit ist es zu verdanken, dass Gilead einen Rückzieher machen musste.

Wie würde ein anderes Pharmaregime konkret aussehen?

Costa Rica etwa hat einen WHO-Patentpool vorgeschlagen, in den die Inhaber von Patentrechten ihre Patente abgeben. Das wäre ein Zwischenschritt. Was uns aber vorschwebt, ist, die Pharmaforschung insgesamt aus dem Patentschutz herauszulösen.

Was kann die Zivilgesellschaft im globalen Süden zur Bewältigung der Krise beitragen?

Unsere Partner in Südafrika schlagen etwa Health Sanctuaries vor, eine häusliche und unterstützende Pflege. Betroffenen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Lage viel eher gezwungen wären, gegen Auflagen zu verstoßen, sollen nicht gesundheitspolizeilicher Repression ausgesetzt sein, sondern Schutz bekommen. Es ist kein Zufall, dass dieser Vorschlag aus Südafrika kommt. Dort hat man früh gelernt, dass sich HIV/Aids nur bekämpfen lässt, wenn man Kranke nicht stigmatisiert und ausschließt.

Weil sie sonst aus Angst vor der Repression ihre Krankheit nicht diagnostizieren lassen und weitere Menschen anstecken?

Unter anderem. Als in Deutschland die ersten HIV-Fälle diagnostiziert wurden, haben Leute wie der CSU-Politiker Peter Gauweiler vorgeschlagen, diese wegzusperren. Es waren die HIV-Selbstorganisationen, die das verhinderten und Strukturen für einen auf Selbsthilfe basierenden gesellschaftlichen Umgang mit der Krankheit aufbauten. Die wirken bis heute sehr stabilisierend. Die Botschaft ist: Die Kranken sind nicht der Feind. Ihnen müssen Möglichkeiten zur sozialen Partizipation geboten werden. Das gilt auch für Corona.