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Die Michelmütze absetzen

Für Joschka Fischer zeigt auch die Corona-Pandemie, dass Deutschland und Europa mehr europäische Politik brauchen

Von Peter Unfried

Im Gegensatz zu den Dauerkrisen der Gegenwart – etwa Erderhitzung und globale Flüchtlingsbewegungen – wird die Corona-Pandemie auch deshalb als dramatische Krise erlebt, weil diese sich nicht zeit- oder raumversetzt vollzieht: Sie trifft auch uns hier und sie trifft uns jetzt. Gleichzeitig macht sie Dinge ganz schnell sichtbar, die bisher gern im Verborgenen gehalten wurden.

Etwa Defizite in der europäischen Gesundheitsversorgung. Oder die Problematik des Auslagerns der Produktion bestimmter – hier medizinischer Produkte – nach China. Vor allem aber das nationalstaatliche Gewurschtel in der EU. „Es geht nicht getrennt. Die Nationalstaaten haben eine wichtige Rolle zu spielen als Akteure, sinnvoll wird das Ganze aber nur in einem größeren Verbund. Das ist die Europäische Union“, hat der langjährige Bundesaußenminister Joschka Fischer dieser Tage in einem Interview in der Wochenzeitung WamS gesagt. Und noch viele andere kluge Dinge. Weshalb es besonders schade, ist, dass das taz lab verschoben ist, für das Fischer zugesagt hatte. Wir wollen auch dieses Gespräch 2021 nachholen, denn Fischer bringt in seinem neuen Buch „Willkommen im 21. Jahrhundert“ (kiwi) noch mehr zukunftsgefährdende Dinge ins Blickfeld, die sich bisher im toten Winkel des Auf-Sicht-Fahrens entwickeln.

Analytiker der Gegenwart

Fischer, Jahrgang 1948, kam als desillusionierter Anti-Staat-Linker Anfang der 80er zu den neu gegründeten Grünen und wurde schon im letzten Jahrhundert „Realo“ genannt. Aber ein Realist im Sinne des Wortes und nicht innerhalb des Grünen Heiapopeia-Denkens wurde er erst durch seine sieben Jahre als Bundesaußenminister und Vizekanzler in einer Zeit von Krieg und Terror. Das hat ihn auch zu einem herausragenden geopolitischen Analytiker der Gegenwart werden lassen.

Ein Realist im Sinne des Wortes, nicht im Grünen Heiapopeia-Denken

In „Willkommen im 21. Jahrhundert“ leitet er historisch her, warum wir in der Nachkriegs-Bundesrepublik das sein konnten, was wir waren: eine liberale, emanzipatorische und pazifistische Gesellschaft, die von der Globalisierung und der Weltchefpolizistenrolle der USA profitierte wie praktisch niemand sonst. Doch diese Bedingungen, in denen die meisten Bundesdeutschen es – entgegen der Wahrnehmung mancher – richtig schön kuschelig hatten, sind perdu. Das amerikanische Zeitalter ist vorbei. Und das Problem der früheren europäischen Imperialmächte ist nicht, dass sie in den alten Irrsinn verfallen und erneut nach der Weltherrschaft streben könnten. Sondern, dass sie zu klein sind, um es in der neuen Weltordnung mit einem aggressiven China und den sich zurückziehenden USA allein hinkriegen zu können. Wirtschaftlich, politisch und vor allem auch, was ihre Verteidigung angeht. Deutschland kann nicht ohne Europa. Und Europa kann nicht ohne Deutschland, sagt Fischer. Aber mit dem bisherigen EU-Durcheinander wird man die notwendige wirtschaftliche und militärische Stärke nicht hinbekommen. Weshalb der „deutsche Michel“, wie Fischer uns Gegenwartsdeutsche nennt, seine Michelmütze absetzen müsse. Was bedeutet: seine Kultur und seine Politik dramatisch verändern.

Kurzum: um die liberale Demokratie zu verteidigen mit Frankreich für die Europäische Union Machtpolitik betreiben statt wie bisher weitgehend Beziehungspflege und Moralpolitik. Spätestens an der Stelle wäre es in einem taz-lab-Auditorium, wie es für 2020 geplant war, vermutlich hoch her gegangen. Aber genau deshalb muss darüber gesprochen werden und deshalb setzen wir darauf, dass Joschka Fischers späte taz- lab-Premiere nicht aufgehoben ist, sondern nur aufgeschoben.

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