Das Virus als Metapher

Nein, um das Coronavirus geht es in Tony Kushners Aids-Drama „Angels in America“ nicht. Braunschweigs Opernversion eröffnet dennoch Perspektiven auf den Virus-Shutdown

Funktioniert in diesen Zeiten vielleicht als Optimismus­infektion: „Angels in America“ Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

Von Jens Fischer

Das Staatstheater Braunschweig brachte die Oper über eine neue Geißel der Menschheit zur Premiere, einen menschenfeindlichen Virus, gegen den es noch keinen Impfstoff gibt, der durch Körperflüssigkeiten übertragen wird, sich schnell ausbreitet, Panikstimmung auslöst, für Ausgrenzungen sorgt und tödliche Folgen haben kann.

Nein, nicht in fiebriger Eile hat ein Komponist das Coronavirus in all seinen Modifikationen vertont. In Peter Eötvös’ „Angels in America“, basierend auf dem gleichnamigen Drama von Tony Kushner, geht es um den HI-Virus, einst als Pest des 20. Jahrhunderts rezipiert. Als Bild einer Endzeitstimmung ausgeschlachtet wird Aids in dem Werk, auch als Krankheitsbild beschrieben, ebenso die Ignoranz sowie Hilflosigkeit, mit der Epidemie umzugehen.

Das bietet für den einen oder die andere sicherlich Assoziationspotenzial, um über aktuelle Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die grassierende pandemische Panik nachzudenken. Aber kann die Inszenierung von Florentine Klepper, die ja vor all den VHS-, Theater-, Universitäts-, Schul-, Kita-, Sportstätten-, Konzertsaal-Schließungen entwickelt wurde, deutlich machen, was uns Kushners/Eötvös’ Tableau der Schwulenszene noch erzählen kann?

Ist es doch im düster-fernen Pandämonium der von Selbstsucht, Profitgier, Bigotterie und Hartherzigkeit gekennzeichneten Reagan-Ära angesiedelt. Sind die „Angels in America“ lehrzauberhaft allgemeines Sittenbild oder als sprachwitzig-sarkastische Abrechnung mit den 1980er-Jahren nur noch aus geschichtlichen Gründen interessant? Hilft der Rückblick als Requiem beim Durchblick hier und heute?

Das Kernthema des kürzlich siebenstündig in Magdeburg prunkvoll aufgeführten Dramas und der zweieinhalbstündigen Opernfassung hat inzwischen seinen Stachel verloren. Die vor Jahrzehnten noch chronisch verdrängte und ausgegrenzte Homosexualität ist ja durchaus in der Mitte der Gesellschaft angekommen, auch Aids entstigmatisiert und von einem Todesurteil dank besserer Medikamente zu einer schweren, aber behandelbaren chronischen Erkrankung geworden, die Lebenserwartung der Betroffenen deutlich gestiegen.

Deswegen bemüht sich Klepper auch gar nicht erst um Aids-Aufklärung. Gestrichen sind in der Opernfassung eh schon die Bezüge zur US-amerikanischen Politik. Dass die einzige historisch verbürgte Figur des Stücks, der schwule Schwulenhasser und Polit-Rechtsaußen Roy Cohn, nicht nur skrupelloser Anwalt der McCarthy-Ära, sondern auch Mentor Donald Trumps war, wird nicht ausgeweidet. Dafür sehr genau auf die Gefühle der sich ver- und entliebenden Paare geschaut.

Klar, die Szenerie ist Amerika. Wolken ziehen über eine Wüstenlandschaft, Außenbezirke einer mit Skyline prunkenden Stadt zeichnen sich ab, ein Highway führt ins Nichts.

Die Grundkonstellation der Handlung ist schnell entfaltet. Louis liebt Prior schon ganz lange, jetzt aber auch Joseph. Also verlässt Louis seinen HIV-positiven Lebenspartner, weil er die Verantwortung nicht erträgt, ihn bis in den Tod zu betreuen. Die leidenschaftliche neue Beziehung ist ebenfalls problematisch, der junge Anwalt Joseph kämpft als Mormone mit seinem Coming-out als Homosexueller. Gleichzeitig aber auch mit Cohn als neuem Arbeitgeber, der um den Erhalt seines politischen Einflusses und die Anerkennung seiner Aids-Erkrankung als Leberkrebs buhlt. Josephs vernachlässigte Gattin Harper stürzt sich derweil in Drogenräusche – vor lauter Sehnsucht nach Sex und spießbürgerlich korrekter Eheanmutung.

Alle verlieren einander zunehmend in einen Taumel aus Liebe, Hass, karrieregeiler oder religiös motivierter Verlogenheit. Dank Drehbühneneinsatz können die rasant wechselnden Szenenskizzen elegant ineinandergeblendet werden zu einem kleinteiligen Handlungsmosaik, in dem alle Figuren irgendwie zusammenhängen.

Den holzschnittartig überzeichneten Charakteren widmet sich das Ensemble mit sanfter Präzision – rühren wollend mit den dramatischen Gesanglinien, emotional sachlich in den rhythmisch deklamierten, dank Mikroport-Unterstützung von der Musik nie überformten Dialogen, da zeigen sich die durchweg überzeugenden Sänger auch als richtig gute Schauspieler.

Eine intelligente, gefühlssatte, Pop-moderne Oper gegen Hysterie und Ohnmacht den Viren der Welt gegenüber

Das Politische gestrichen, das Private ausgearbeitet, bleibt noch das Poetische. Prior wird von einem Engel heimgesucht. Feuer flammt auf, eine ein Hochhaus darstellende Stellwand fällt um, damit die Zuschauer an 9/11 denken. Eine Zäsur. Zeitenwende. Cliffhanger.

Anschließend sieht der Spielplatz wie ein Sperrmüllplatz aus. Der geflügelte Bote erklärt in Opern-Diva-Manier mit himmelhoch geschraubten Koloraturen, Prior sei als prophetisches Sprachrohr auserkoren und solle mal eben die Welt vor Viren und einem unerbittlich verhängnisvollen Fortschrittsglauben retten, weil Gott sich längst nicht mehr dafür interessiert. Prior aber weigert sich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Setzt auf das Weitergehen aus der Krise.

Ein fast glückliches Finale: die Verabschiedung vom Leben als einem Bekenntnis zu ihm. Was ja auch gerade in Corona-Zeiten, in dem soziale Kontakte und gemeinsam erlebte Kultur zum Tabu werden, eine notwendig mutmachende Stimmungsaufhellung ist, vielleicht sogar als Optimismusinfektion funktioniert.

Und wer ein wenig weiterdenken möchte, könnte in dem Einbruch des Virus in die angeblich so aufgeklärt tolerante Gesellschaft auch die moralischen Defizite der Gesellschaft aufgedeckt sehen, Aids als Metapher für den Zusammenbruch der Zivilisation verstehen, da Abwehrmechanismen versagen. Künden „Angels in America“ doch vom Zerfall der Ideologien, einer Erosion von Sinnzusammenhängen, dem Ausleiern menschlicher Beziehungen.

Angenehm, wie zurückhaltend Eötvös seine avancierte Tonsprache in den Dienst des Textes stellt. Unter der Leitung von Christopher Lichtenstein findet das Staatsorchester Braunschweig meist zu flirrend freitonalen, atmosphärisch farbig-gleißenden Klangbildern, die in dissonanter Melodramatik aufblühen können, mit Stilmitteln spätromantischer, sakral-jüdischer, Jazz- wie auch Minimal-Musik spielen und gerade den steten Bewusstseinswandel der Figuren zwischen Realität, Traum und Halluzination sowie das inszenatorische Changieren zwischen Melancholie und Aufbegehren wirkungsvoll illustrieren. Eine intelligente, gefühlssatte, Pop-moderne Oper gegen Hysterie und Ohnmacht den Viren der Welt gegenüber.

„Angels in America“, Staatstheater Braunschweig. Wann das Stück noch einmal zu sehen ist, ist wegen der Coronaviruskrise unklar. Bis auf Weiteres sind alle staatlichen Theater in Niedersachsen geschlossen.