Neuer Film von Koreeda: Wie eine Diva im Weltall

In seinem FIlm „La Vérité – Leben und lügen lassen“ zeigt Hirokazu Koreeda die unlösbaren Rätsel einer Familie. Eine Hommage an eine schlechte Mutter.

Catherine Deneuve steht in einem Zimmer, die Hände ineinander verschränkt, den Blick skeptisch zur Seite

Niemand lügt wie Fabienne (Catherine Deneuve) Foto: L. Champoussin/Bunbuku Movies

Die liebe Familie, sie ist und bleibt ein Mysterium. Und ein Paradox. Man kann nicht mit ihr und nicht ohne sie. Unentwegt arbeitet sich auch das Kino an ihren Konflikten, Neurosen, Macken ab. Besonders schöne filmische Familiengebilde erschafft der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda – wohl weil er weiß, dass sich ihr Kern letztlich seinem Objektiv entzieht. Ist nicht jede Familie sich selbst ein Rätsel? Birgt nicht jede ihr eigenes Geheimnis und ist permanent damit beschäftigt, es zu ergründen oder zu verdrängen? Behutsam registrierend schaut Koreeda dabei zu.

In seinem 2019 in Cannes mit der Goldene Palme ausgezeichneten Film „Shoplifters“ bleibt die Kamera statisch, während um sie herum, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen ihren Platz in einer Wohnstube suchen. Sie teilen die Beute untereinander auf, die sie während eines Tages auf Diebeszügen ergattert haben. Diese Außenseiterinnen und Außenseiter bilden ein anarchisch-soziales Knäuel, das man auch Wahlfamilie nennen könnte. Ein fragiles Miteinander, das sich nach und nach vor unseren Augen entwirrt und doch in sich verbunden bleibt.

In „Unsere kleine Schwester“ (2015) geht es um drei Schwestern, die fast ohne Eltern groß geworden sind. Mittlerweile sind sie erwachsen und nehmen ihre jüngere Halbschwester bei sich auf: Zuzug, eine 13-Jährige, die nach dem Tod des gemeinsamen Vaters keine Verwandten mehr hat. Mit ihr kehren die Erinnerungen an den abwesenden Erzeuger zurück. Plötzlich steht die Frage im Raum, was ein Vater hätte sein können. Oder, ob das Leben durch seine Anwesenheit anders verlaufen wäre.

Aus Bindung wird Zugehörigkeit

Man kann dabei zuschauen, wie aus einer rein familiären Bindung wahre Zugehörigkeit wird. Wie aus Verwandtschaft Wahlverwandtschaft entsteht. Alle Geschichten, Biografien und Schicksale laufen hier in einem traditionellen japanischen Holzhaus zusammen, das an einem einsamen Hügel steht. Und man kann sich der schönen Vorstellung nicht erwehren, dass die drei Schwestern noch weitere Räume für Gäste und Seelenverwandte bereithalten, die dort irgendwann ebenfalls ihr Zuhause finden werden.

„La Vérité – Leben und lügen lassen“. Regie: Hirokazu Koreeda. Mit Catherine De­neuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke u. a. Frankreich 2019, 107 Min.

Auch Koreedas erster in Frankreich gedrehter Film, „La Vérité – Leben und lügen lassen“, spielt in einem Haus, das sich wie eine Familie nie ganz erkunden lässt. Immer wieder steht man vor Türen, die nie geöffnet werden, sieht Etagen, die nie betreten werden. Die schöne Villa samt Garten liegt in Paris – einmal sieht man die Metro im Hintergrund vorbeifahren – und scheint dennoch ein entrückter Ort zu sein. Schließlich wohnt dort die Hexe von Vincennes oder besser: die Schauspielerin, die sie einst gespielt hat: Catherine Deneuve in der Rolle der Diva Fabienne, die gerade dabei ist, ihre Autobiografie zu veröffentlichen.

Schon die erste Szene ist ein Auftritt: Fabienne trägt ein Kleid mit bunten Frühlingsblumen, das sich vor der herbstlichen Landschaft vor ihrem Fenster deutlich absetzt. Es scheint, als wolle der seit Jahrzehnten gefeierte Star hier Farbtupfer gegen die eigene Vergänglichkeit setzen. Es ist eine mehrdeutige Szene, denn durch Fabienne spricht auch die reale Schauspielerin Catherine Deneuve, deren zweiter Name übrigens Fabienne ist. Wie überhaupt Fiktion und Realität vor Koreedas Kamera immer wieder in unaufgeregter Beiläufigkeit verschmelzen. Deshalb raucht Fabienne dünne, lange Zigaretten, weil Deneuve dafür bekannt ist, öffentliche Orte stets in einen Aschenbecher zu verwandeln.

Langweilige Fragen

Fabienne gibt ein Interview, und die Langeweile über Fragen, die sie Dutzende Male beantworten musste, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Welche Schauspielerin sie am meisten beeinflusst habe? Die prompte Antwort: „Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Ich war immer ich selbst.“ Man mag ihr nicht widersprechen. Catherine Deneuve ist Catherine Deneuve ist Catherine Deneuve.

„La Vérité“ ist auch ein Film über das Wesen der Schauspielerei, über die Frage, wie ständige Darstellung und Selbstdarstellung einen Menschen verändert. Fabienne braucht das Scheinwerferlicht auch jenseits des Sets. Hemmungslos, monströs, egozentrisch, aber auch mit feiner Selbstironie lebt die Schauspielerin in allen Lebenslagen ihren Narzissmus aus: „Besser eine schlechte Freundin und Mutter sein als eine schlechte Schauspielerin.“

„La Vérité“ ist eine Hommage an diese schlechte Mutter, die diese Rolle mit dem Wissen um alle Konsequenzen angenommen hat. Sie legt es erst gar nicht darauf an, eine Sympathieträgerin im Privaten zu sein. Umso schöner, wenn ein Ehepaar sie im Restaurant erkennt und Handküsse zuwirft. Versonnen lächelt sie in sich hinein.

Blutsbande hinterfragen

Auf hintersinnige Weise unterwandert Hirokazu Koreeda klassische Familienbegriffe. Wiederholt ging es in seinen japanischen Filmen darum, die sogenannte Blutsbande zu hinterfragen, denn für diesen Regisseur sind Familien mehr als Familien. Sie sind Utopien, Vorschläge, soziale Versuchsanordnungen. Und Untersuchungen von dem, was Gemeinschaft auch bedeuten kann.

Während des anfänglichen Interviews sieht man einen Mann, eine Frau und ein Kind mit Rollkoffern durch den Garten laufen. Die Diva gibt dem Journalisten ein Zeichen, sich nicht ablenken zu lassen, es handle sich nur um ihre Tochter und deren Kleinfamilie.

Auftritt Juliette Binoche und Ethan Hawke. Er spielt einen Möchtegern-Schauspieler, der bisher nur in Internetserien zu sehen war und von seiner Schwiegermutter mit herablassenden Blicken bedacht wird. Sie hingegen ist, obwohl es einst ihr großer Traum war, nie in die Fußstapfen der übermächtigen Mutter getreten. Stattdessen ist sie Drehbuchautorin geworden. Im Verlauf des Films wird Lumir der Familiengeschichte einen anderen Twist geben, sich sogar im Privatleben als Dialogschreiberin ihrer Mutter betätigen, die eine gute Lehrmeisterin zu sein scheint: „Die Wahrheit ist nicht faszinierend.“

Unter einem Dach

Offenbar braucht es kleine und große Lügen, damit man überhaupt unter einem Dach zusammen wohnen kann. Zwischen hart ausgesprochenen Wahrheiten und dem Kreisen um Halbwahrheiten ist das Familiengefüge ständig in Bewegung. Plötzlich sitzt auch der Vater von Binoches Figur mit am Tisch, lässt sich das Essen von Fabiennes neuem Freund servieren und verschwindet wieder.

Auf weiteren Ebenen betreibt „La Vérité“ ein Spiel mit Sein und Schein, Realität und Repräsentation. Gerade dreht Fabienne einen Science-Fiction-Film. Wie schon als Kind begleitet Lumir ihre Mutter zum Set. Die absurde Handlung des Films im Film: Wegen einer unheilbaren Krankheit verbringt eine Frau ihr Leben im Weltall, weil sie dort nicht altert. Nur selten kann sie ihre Tochter – gespielt von Fabienne – besuchen, die mittlerweile älter als sie ist. Während Fabienne vor der Kamera über die abwesende Filmmutter trauert, wird sie von Lumir beobachtet.

Deren eigene kindliche Einsamkeit mag sich in der Szene widerspiegeln, doch gleichzeitig ist da Begeisterung für Fabienne als Schauspielerin. Am Set kommen die beiden sich näher, am Set stellen sich die großen Fragen: Ist die Schauspielerei ein ewiger Kampf gegen die eigene Vergänglichkeit? Ist das, was vor der Kamera entsteht, Illusion oder kreative Widerspiegelung der Wirklichkeit? Und müssen die Mitglieder einer Familie sich nicht immer etwas vorspielen, um einander wahrhaftig zu begegnen?

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