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Wenn das Wort Gewalt wird

Für die 1970er-Jahre wäre die Inszenierung vielleicht stilbildend gewesen. In Hannover verschenkt Stefan Pucher aber die Chance, Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ auf Hass und Hetze in Fake News und Internet zu beziehen

Nachahmenswert? Bis zum Ende wirkt Blums Mord am zynischen Macho-Arschloch-Journalisten völlig okay Foto: Katrin Ribbe

Von Jens Fischer

Das ist mal ein Statement des Staatstheaters Hannover. Schauspielerisch entwirft Caroline Junghanns mit stillem Stolz, strahlender Aufrichtigkeit und unbeirrbarem Selbstbehauptungswillen die Titelfigur als kluge wie zielstrebige Frau, die als Haushaltshilfe und Servicekraft tätig ist. Sie macht gleichzeitig aber auch eindrücklich ihr Leiden am Alltag deutlich, der durch verbale und körperliche Belästigungen aller Art geprägt ist, nachdem sie gerade vor einem gewalttätigen Ehemann geflohen ist. Als dann auch noch Verleumdungen ihrer Person, Freunde und Mutter durch ein mächtiges Presseorgan plus Hass-Kommentare, Hass-Anrufe, Hass-Briefe hinzukommen, lädt sie den dafür hauptverantwortlichen Journalisten zu einem Exklusivinterview ein. Und als der sie saublöd anmacht, erschießt sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

Die moritatenhafte Handlung von der verlorenen Frauenehre ist hier so emanzipatorisch wie aggressiv erzählt, und dieser befreiende Akt von Selbstjustiz derart empathisch gut vorbereitet und psychologisch nachvollziehbar ausgebreitet, dass Zuschauer wohl nur schwer anders können, als rechtsstaatliche Überzeugungen mal kurz rechts liegen zu lassen und in überzeugter Empörung zuzustimmen: Ja, die Hinrichtung dieses widerlich zynischen Macho-Arschlochs ist völlig o.k., geradezu als Notwehr anzusehen.

So gelingt Regisseur Stefan Pucher eine prima Provokation. Nur eben nicht mit einem aktuellen Stück, das die #Metoo-Debatten mit den Shitstorms und Bashings in den sozialen Medien thematisiert, sondern einem Zeitgeiststück aus dem Jahre 1974: die Dramatisierung des Romans „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“.

Heinrich Böll hatte ihn als Antwort auf die Hetzkampagnen der Bild-Zeitung gegen ihn und seine Familie geschrieben. Wurde er doch als Friedensaktivist, Linksintellektueller und Anwalt für den menschlichen Umgang auch mit Terroristen zum Feindbild der Republik stilisiert. Die Ostverträge sorgten damals für einen nationalen Aufstand, der Radikalenerlass fand Anwendung als Berufsverbot für politisch abseits des sozial-liberal-christdemokratischen Denkens verortete Menschen und die RAF lud ihre Waffen durch.

In dieses Vorstadium des Deutschen Herbstes hat Böll seine Titelfigur als Inbegriff kleinbürgerlichen Nachkriegswohlstands platziert. Ein Auto besitzt sie, hat eine kleine Eigentumswohnung und wählt sich ihre Sexpartner selbst aus, ohne dabei feministische Thesen zu schwingen oder sich fürs Post-68er-Rumoren zu interessieren. Katharina Blum ist die reine, einsame, buchhalterisch kühl ihr Leben gestaltende Unschuld, die zum wehrlosen Opfer wird von Obrigkeit und rücksichtslosen Boulevardmedien.

Auslöser ist, dass die Blum auf einer Karnevalsparty Ludwig Götten kennenlernt, plötzlich total verliebt die Nacht mit ihm verbringt und ihm im Morgengrauen, als die Polizei ihre Wohnung umstellt hat, den Weg durch Lüftungsschächte ins Freie weist. Dass Götten als Bankräuber und Killer gesucht wird, erfährt die Blum erst jetzt.

Schon titelt das „Zeitung“ genannte Organ der Schreipresse, Blum sei sexwildes Räuberliebchen oder auch eiskalte Mörderbraut. Der schmierig feiste Autor entsprechender Artikel, Werner Tötges, läuft geradezu heiß, wenn es darum geht, Vermutungen und Fantasie mit anzüglichen Klischees zu vermeintlichen Wahrheiten zu verquirlen. Er schleicht sogar an Katharinas schwer kranke Mutter heran, die aufgrund der Aufregung kurz danach an Herzversagen stirbt.

Nach der anfänglichen Mordszene erzählt Pucher die Geschichte als Recherche, wie es dazu kommen konnte. Zuerst ist die Pressekonferenz nach der Tat an Weiberfastnacht zu erleben, Vertreter der Justiz und Polizei sind Witzfiguren, wie sie da so in ihren Scheichkostümen herumwandeln. Es folgen Verhöre und Szenen der Ehe der Arbeitgeber Blums. Oder die Bühne zeigt sie allein zu Haus. Alle Szenen sind prima im 1970er-Jahre-Design ausgestattet. Rechts und links prangen riesige Leinwände, auf die die Nahaufnahmen der gerade Handelnden projiziert werden. Sieht toll aus, das Setting, und saugt die Aufmerksamkeit ins Geschehen.

Blums Beharren auf sexueller Selbstbestimmung wirkt aktuell wie eh und je – ein bisher überlesener Aspekt

Das ist manipulativ auch mit den emotionalisierenden und skandalisierenden Vereinfachungsmethoden von Bild und Co. inszeniert, nach dem Motto: Empört euch. In Briefen und Anrufen wird Katharina als Kommunistensau beschimpft und obszön beleidigt, öffentlich angefeindet und bedroht. Bis sie in die Offensive geht, nüchtern konsequent in ihrer naiven Radikalität zur Pistole greift.

Aber die Brisanz dieses historischen Stoffes entwickelt Pucher nicht fürs Hier und Heute. Seine Inszenierung wäre in den 1970er-Jahren sicherlich stilbildend gewesen, anno 2020 wirkt sie plump und bieder. Die im Roman angeklagte Bild hat ja (wie alle Tageszeitungen) dank des Auflagenverlustes inzwischen deutlich an Macht verloren. Meinungs- und stimmungsmachend sind derzeit eher digitale Medien, also Hasspostings und Fake News im Internet statt Hass-Schlagzeilen und Fake News der Bild, zu Massenphänomen geworden. Was sich dadurch verändert hat, wäre eine interessante Frage. Jetzt noch mal auf die Feinde von einst zu schimpfen, scheint müßig.

Katharinas Beharren auf sexueller Selbstbestimmung wirkt hingegen aktuell wie eh und je, wenn sie den Mannsbildern auf der Bühne den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Zudringlichkeit erklären muss. Überraschend ein bisher überlesener Aspekt bei Böll. Wechselnde Herrenbesuche habe sie gehabt, wird Katharina vorgeworfen, was sie nicht bestreitet. Aber bei Götten war sie sich sicher: „Er ist es eben, der da kommen sollte.“ Miriam Maertens tritt an die Rampe und erklärt, das sei eben nicht der Besuch eines Herrn, das sei ein „Mann“ gewesen. Um die Nacht mit einem solchen Exemplar würden andere Frauen Blum beneiden.

Wer sich in diesem Moment mal im Publikum umschaut, könnte vielleicht wie in der Premiere ein leises, vielleicht komplizenhaft gemeintes Lachen vernehmen, als wäre die Lust auf echte Kerle mit romantischem Gangster-Image ein zeitloses Phänomen. Aber das war es dann auch mit den Entdeckungen. Bleibt der anfänglich servierte Mord, der auch nach 100-minütiger Aufklärung noch faszinierend verständlich, ja, gefährlich nachahmenswert wirkt. Darüber ließe sich prima aufgeregt diskutieren.

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: Fr, 16. 3., 19.30 Uhr, Schauspielhaus Hannover; weitere Termine: 28. 3.; 5., 9., 15. + 25. 4.

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