Wenn Tee die einzige Konstante bleibt

Jia Zhang-kes Dokumentarfilm „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ (Berlinale Special) erzählt episodisch und kunstvoll von der Geschichte der Volksrepublik China

Der Schrift­steller Jia Pingwa Foto: X Stream Pictures

Von Fabian Tietke

In aller Ruhe stehen die älte­ren Damen und Herren vor der Essenausgabe und warten darauf, dass die Frau hinter dem Tresen ihnen die Schüsseln füllt. Mit dem Essen kehrt Stille ein, danach ist Zeit für Gespräche. In diesen Gesprächen berichten einige der Bewohner des Jia Family Village, einer Wohnsiedlung in der nordchinesischen Provinz Shanxi, von den Nachkriegsjahren und der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949.

Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke schlägt in seinem Film „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ einen großen historischen Bogen. Nachdem er vergangenes Jahr in dem Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ die Transformationen der 1980er Jahre bis in die Gegenwart ausgelotete, nimmt er sich in seinem neuesten Film in dokumentarischer Weise der gesamten Nachkriegszeit in China an.

Am Anfang des Films stehen Erzählungen aus den Aufbaujahren. Sie berichten davon, wie die Bewohner des Jia Family Village unter Anleitung des Schriftstellers und Literaturfunktionärs Ma Feng das Wasser der Gegend reinigten und sich von den Traditionen der arrangierten Ehen befreiten. Im Bericht von Ma Fengs Tochter über dessen Leben weitet sich der Blick auf die Geschichte der ersten Jahre der Volksrepublik. Ma Feng nimmt als junger Künstler mit einer Zeichnung an einem Wandzeitungswettbewerb unter den Einheiten der chinesischen Armee im Sino-Japanischen Krieg teil, kommt zum Studium nach Beijing, wird Verleger und kehrt schließlich in die Provinz Shanxi zurück, um sich dem Schreiben zu widmen.

„Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ ist in 18 kleinere Abschnitte gegliedert, die alle recht unterschiedlichen Teile des Films in eine Erzählung zusammenfügen. Die wird unterstützt von wiederkehrenden Elementen, etwa Szenen, die Shanxi-Opern zeigen, Eisenbahnen oder Teegläser. In diesen setzt sich zwischen den Schnitten allmählich der Tee. All diese überzeitlichen Konstanten lenken aber nicht davon ab, dass man sich in einer Zeit der Umbrüche befindet. Als eine junge Lyrikerin mit dem Schriftsteller Jia Pingwa am Esstisch sitzt, poltert dieser, Lyrik sei ja ganz schön, aber sie solle zuerst ihre Pflicht als Ehefrau und Mutter erfüllen – und nicht in erster Linie Lyrikerin sein.

Jia Pingwas Lebensgeschichte, die dieser selbst erzählt, ist die einzige Episode des Films, in der auf die Zeit der Kulturrevolution nicht nur angespielt wird; vielmehr wird sie ganz offen thematisiert. Wegen eines Treffens, an dem er nicht einmal teilgenommen hat, wird Jia Pingwas Vater rückwirkend als Konterrevolutionär abgestempelt. Die Familie folgt dem Vater in die Verbannung zur Zwangsarbeit. Auf Umwegen wird der Sohn letztlich doch zum Studium zugelassen und beendet es gerade rechtzeitig, um in den 1980er Jahren die Öffnung für ausländische Literatur zu erleben. Es ist eine Öffnung, die Jia Pingwa in die Schaffenskrise stürzt.

Als eine Reihe jüngerer Regisseure Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre auf sich aufmerksam machte, stach Jia Zhang-ke mit seinem Drang zur Chronik heraus. Die Regisseure wurden als Sechste Generation bezeichnet – nach den Abschlussjahrgängen der Filmakademie in Beijing, wie in der chinesischen Filmgeschichte üblich. Der Gegenwartsbezug galt als ihr vereinendes Merkmal. Wie schon in dem Film „Platform“, in dem Jia Zhang-ke im Jahr 2000 auf die Geschichte seiner Heimatstadt Fenyang vom Ende der Kulturrevolution bis zum Beginn der 1990er Jahre blickte, ist auch „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ keine bloße Geschichtsschreibung. Vielmehr ist der Film Jias jüngster Versuch, sich im Blick zurück der Gegenwart zu nähern.

Das wird deutlich, wenn man die letzten beiden Interviews im Film Revue passieren lässt. Der Schriftsteller Yu Hua berichtet von seinen Anfängen, seinem Zugang zum Schreiben. Weil Bücher auch in den Jahren nach der Kulturrevolution Mangelware waren, kamen sie beim Weitergeben meist mit fehlenden Seiten vorne und hinten an. Yu begann, Enden für diese Geschichten zu erfinden, eine Gewohnheit, die ihm auch zugutekam, als er bei einem seiner ersten Aufträge das Ende einer Kurzgeschichte ändern sollte.

Der Film ist Jias jüngster Versuch, sich im Blick zurück der Gegenwart zu nähern

Emotionen unter Kontrolle

Das Gespräch mit der Schriftstellerin Liang Hong ist schließlich das persönlichste im Film. Mehrfach muss sie den Bericht über ihre Kindheit und Jugend abbrechen. „Der Tag, an dem ich frei über meine Mutter reden kann, wird der Tag sein, an dem ich über meine Emotionen Kontrolle habe“, sagt Liang Hong, während sie von den Opfern ihrer älteren Schwester spricht, die ihre gelähmte Mutter, den geschäftsuntüchtigen Vater und die übrige Familie durchgebracht hat.

Über die Selbstauskünfte der drei Generationen von Schriftstellern (vier, wenn man Ma Feng hinzunimmt) entfaltet sich in „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ eine Kulturgeschichte der Volksrepublik über die Zeit ihres Bestehens: der Opfer, die viele brachten, der Repression, die überstanden wurde, der Fortschritte, die man erreichte. Jia Zhang-kes neuester Film ist eine unzeitgemäße Erinnerung daran, dass die Vergangenheit auch in China stets nur eine Nachfrage von der Gegenwart entfernt ist.

25. 2., 12.30 Uhr, Cubix 6