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Halt verlieren, um ihn zu gewinnen

Erkenntnis in der Dunkelheit erfahren: Die seltsame Serie „Night Watch“, Langzeitbelichtungen des britischen Fotografen Ian Wiblin, fordert das Sehen heraus. Im Sprengel Museum Hannover

Von Radek Krolczyk

Dass Nachtaufnahmen uns die Welt erleuchten, klingt zwar schön, aber plausibel ist es nicht. Denn wenn die Nacht sich über die Welt gelegt hat, werden wir erst einmal orientierungslos und verlieren den Halt. Zunächst – denn mit etwas Anstrengung und etwas Zeit gewöhnen sich unsere Augen an die Situation. Dennoch bleibt die Frage, warum man sich von der Nacht unbedingt ein Bild machen will.

Der Fotograf Ian Wiblin beschäftigte sich 1994 und 1995 während eines Stipendienaufenthalts mit der englischen Universitätsstadt Cambridge und ihrer sumpfigen Umgebung. Die Aufnahmen machte er nachts, was zu einer Serie pechschwarzer Bilder führte, die, so könnte man denken, vielleicht besser tagsüber gemacht worden wären. Denn nun, wo sie unter dem Titel „Night Watch“ im Sprengel Museum in Hannover zu sehen sind, wird klar: Das Anschauen dieser Nachtbilder ist anstrengend, und die Szenerien sind etwas beängstigend.

Fotografie ist ein Medium der Ermächtigung. Der Fotograf schaut, dann definiert er Gegenstand und Ansicht, schließlich „nimmt“ er das so produzierte Bild und überreicht es seinen Be­trach­te­r:innen. Im Englischen heißt es einigermaßen gewaltsam: „to take a photograph“. Das Bild, das Ian Wiblin uns überreicht, aber nimmt zunächst einmal uns. Denn es zieht uns in seine schwarzen Tiefen hinein. Und weil wir uns in all dieser Schwärze im ersten Moment noch nicht zurechtzufinden wissen, verlieren wir uns darin.

Wiblins Langzeitbelichtungen, quadratische Großformatfotografien, könnte man als pechschwarz bezeichnen, tatsächlich aber setzen sie sich aus einer riesigen Palette verschiedener Nuancen von Pech zusammen. Verschiedene Arten Schwärze schieben sich in Flächen übereinander: Es sind schwarze Flächen von Himmel, Wänden und Asphalt. Wie Vorhänge scheinen sie Mal um Mal eine Sicht zu verhängen, statt zu eröffnen.

Räumliche Tiefe

Konzentriert man sich auf die Verteilung der Schwärze auf den gerahmten Fotobögen, so ergeben sich plötzlich äußerst detailreiche Bilder von historistischen Innenräumen, Straßen und Häusern einer Stadt und einer karg bewachsenen Landschaft. Diese Bilder weisen dann eine sehr starke räumliche Tiefe auf. Der sich ursprünglich in der Schwärze verlierende Blick findet nun in den fernen Details der Bildtiefe erneut Halt. Der zunächst entmachtete Blick kehrt so gestärkt zurück auf seinen Thron. Man muss vielleicht erst den Halt verlieren, um neuen gewinnen zu können.

Wiblins Bilder wechseln zwischen Cambridge und den umgebenden Sumpfgebieten. Die Szenen der Stadt wechseln, man sieht den modernen Flachbau der Kunstfakultät, die Rundbögen der Bibliothek der Rechtswissenschaft aus den 30er Jahren und die Silhouette der King’s-College-Kapelle aus dem 15. Jahrhundert. Diese disparaten Bauten werden erst in Wilbins sehr spezifischen, finsteren Aufnahmen miteinander verbunden. Die gemeinsame Stimmung der Bilder erst zieht sie zu einer städtischen Landschaft zusammen.

Stärker noch verhält es sich mit den Aufnahmen der Sümpfe, die mittels der gemeinsamen Farbstimmung den Raum mit der Stadt teilen. Auf manchen Aufnahmen lässt sich der Standort nicht sofort bestimmen, mischen sich Natur und Stadt auf eine seltsame Art. Einmal etwa steht ein Laternenmast zwischen dünnen Bäumen. Mit all den Abschürfungen auf seiner Oberfläche ähnelt er sich den Stämmen an. Besonders ist allerdings, dass von seinem oberen, unsichtbaren Teil Licht ausgeht, das die gesamte Szenerie überhaupt erst sichtbar macht.

Historisch disparate Orte waren öfter schon Thema in den Arbeiten des 1960 in Yorkshire geborenen Künstlers, der heute an der Universität in Wales unterrichtet. 1989 und 2007 beschäftigte er sich mit der deutschen Geschichte der heute polnischen Stadt Wrocław. Ähnlich wie bei der Cambridge-Serie tat er es anhand der architektonischen Oberflächen.

In „Night Watch“ schieben sich die historischen Architekturen als Kulissen durch die Bilder. Die Schichtung der dunklen Flächen als Vorhänge verstärkt diesen Eindruck. Einige Aufnahmen gelten den Innenräumen des Fitzwilliam Museum aus dem späten 19. Jahrhundert, in dem die historischen Sammlungen der Universität aufbewahrt werden. Wenn man die Säulen der Eingangshalle in Wiblins dunklen Bildern betrachtet, fällt ihre Künstlichkeit auf, und das Material, aus dem sie sind, wirkt weich und geschmeidig. In all der Dunkelheit dringt dann Licht durch jede Ritze des gipser­nen Ornaments.

Es ist eine seltene und seltsame fotografische Strategie, mittels Bildverhängung eine Bildöffnung zu betreiben. Die Dunkelheit verdeckt das Faktische und fordert Projektion, Wiblins Dunkelheit zwingt den Betrachter hingegen zur genauen Betrachtung. Projektion weicht der Erkenntnis.

Bis 24. Mai, Sprengel Museum, Hannover

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