piwik no script img

Ein leidvolles Leben

Lange war die 1940 in einer Pflegeanstalt ermordete Avantgarde-Malerin Elfriede Lohse-Wächtler vergessen. Seit den 1970ern wird sie allmählich wiederentdeckt. Nun präsentiert die Hamburger Künstlerin Elisa Goldammer ihre persönliche Annäherung in einem Buch

Von Frank Keil

Das Geburtsdatum steht fest: der 4. Dezember 1899. Der Todestag auch: der 31. Juli 1940. Und dazwischen? Was geschah im Leben von Elfriede Lohse-Wächtler, Dresdner Künstlerin, dann Hamburger Künstlerin? Erst spät hat man herausgefunden, dass sie in der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein in Pirna ermordet worden ist, man fand eine Karteikarte. Aber wie war ihr Leben? Und lässt sich das überhaupt herausfinden, kann man sich ihm annähern?

Schlicht „ELW“ heißt ein Buch und ein Ausstellungsprojekt von Elisa Goldammer. Es ist nicht nur eine intensive Annäherung an die Malerin, die heute zum weiteren Umfeld der „Hamburgische Künstlerschaft“ gezählt wird; es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Genre der KünstlerInnen-Biografie an sich, grundiert mit der Frage: Wie ein Leben fassen, wie ein Leben auch erzählen? Was noch mal einen besonderen Drive bekommt, weil Elisa Goldammer weder Historikerin noch Journalistin ist, sondern Künstlerin, die dieser Tage ihr Studium der bildenden Kunst an der Hamburger HfbK mit eben „ELW“ abschließt.

Wie Lohse-Wächtler stammt Elisa Goldammer aus Dresden, landet wie sie über wenn auch gänzlich andere Wege in Hamburg, wohnt schließlich in Barmbek-Süd, in der Nähe der S-Bahn-Station Friedrichsberg. Dort gab es ab 1864 eine Klinik, die erst „Irren-, Heil- und Pflegeanstalt“, dann „Staatskrankenanstalt“ hieß. Dort wurde Elfriede Lohse-Wächtler 1929 nach einem Zusammenbruch eingeliefert und für zwei Monate untergebracht, erholte sich langsam – und erlebte mit ihrer Reihe der „Friedrichsberger Köpfe“ von Porträts ihrer Mitpatientinnen den künstlerischen Durchbruch.

Mittlerweile ist die Friedrichsberg-Klinik mehrfach umgebaut und längst privatisiert worden. Das Klinikgelände wurde verkleinert, sodass nebenan ein kleines Wohngebiet entstand, in dem es nun eine Straße gibt, die den Namen der Künstlerin trägt: Elfriede-Lohse-Wächtler-Weg. Durch den radelte und radelt Elisa Goldammer immer wieder, auf dem Weg zur Hochschule, zum Job, zu Freunden und jeweils zurück, nach Hause.

Goldammer beschäftigt sich auch mit dem Genre der Anstaltsfotografie und der Idee, das vermutete gestörte Innere einer Person sichtbar zu machen über die Dokumentation des Äußerlichen

Eines Tages vertiefte sich Goldammer in das Leben von Elfriede Lohse-Wächtler. Sie fängt Feuer, plant eine große Arbeit, bekommt Zweifel, will alles wieder verwerfen, macht weiter. Drei Jahre dauern Recherche und Arbeit. Goldammer fragt beim Medizinisch-Historischen Museum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf nach, wird weitergeschickt ins Archiv Hamburger Kunst im Warburg-Haus, wo Lohse-Wächtlers Krankenakte aufbewahrt wird.

Goldammer macht sich mit der Forschung der Kunsthistorikerin Maike Bruhns vertraut, liest die wenigen erhaltenen Briefe des Bruders und des Vaters, der sie nach heutigem Wissenstand 1932 in die Pflegeanstalt Arnsdorf bei Dresden einweisen ließ, nachdem die Tochter nach einer gescheiterten Ehe und nach Jahren in teilweise schlimmster Armut das Leben in Hamburg aufgeben musste. Man erteilt Lohse-Wächtler die Diagnose Schizophrenie.

Goldammer lernt die Nachlassverwalter kennen, erfährt, auf welch verschlungenen Wegen nach 1945 die erhaltenen Bilder, Zeichnungen und Skizzen der Lohse-Wächtler zu ihnen gekommen sind. Sie liest sich durch die Fachliteratur, verfolgt den Prozess der Wiederentdeckung der Künstlerin ab den 1970er-Jahren, den von Künstlerinnen überhaupt, der sich seitdem in Wellen fortsetzt und noch lange nicht abgeschlossen ist. Sie besucht nicht zuletzt ein Recherche-Seminar der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, das nicht nur das Recherche-Handwerk vermittelt, sondern das sich auch der Frage stellt, wie mit der Wucht umgehen, die einen trifft, wenn der Weg in die Jahre des Nationalsozialismus führt und sich immer wieder eine nächste Frage stellt: Was haben die Menschen damals gewusst und getan, was die eigene Familie?

Goldammer fragt: „Warum hat etwa meine Familie überlebt und Elfriede Lohse-Wächtler hat nicht einmal ein Grab?“ Dann merkt sie, dass sie ihre Kunst nicht außer Acht lassen kann. Goldammer sagt: „Es gab den Moment, und den gibt es auch im Buch, als ich das erste Mal Bilder von ihr im Original gesehen habe, und das war das Aha-Erlebnis.“

All das fließt ein in ihr Buchprojekt: Sie erzählt mal sachlich, mal tagebuchmäßig, wie sie die Orte aufsucht, die im Leben von Lohse-Wächtler eine Rolle gespielt haben oder gespielt haben können, in Dresden, in Hamburg, in Altona, auf St. Pauli. Dann wieder verlässt sie die Position der nüchternen Betrachterin und berichtet von Kneipenabenden, die in einem Strudel aus Alkohol, sehr lauter und tanzbarer Musik, der puren Freude am Leben und der irgendwann einsetzenden Müdigkeit enden, frühmorgens, während die Leute gewohnt routiniert zur Arbeit hasten.

Goldammer beschäftigt sich auch mit dem Genre der Anstaltsfotografie und der Idee, das vermutete gestörte Innere einer Person sichtbar zu machen über die Dokumentation des Äußerlichen wie Gewicht oder Körpergröße einer Patientin hinaus. Sie erzählt von schlaflosen Nächten, wo sie sich bald am Schreibtisch wiederfindet. Sie schaut Fotos an, auf denen Lohse-Wächtler als Tänzerin zu sehen ist, sie besucht in Dresden ihre Eltern und versucht ihrer Mutter Details aus dem Leben der Großväter zu entlocken – mit Blick auf die NS-Zeit. Sie notiert: „Es gibt immer noch etwas zu erforschen, zu fragen, nachzulesen.“ Aber nun sagt sie über ihr Buch endlich auch: „Ich muss es jetzt in die Welt lassen.“

Elisa Goldammer: „ELW. Von dem verschwundenen Leben Elfriede Lohse-Wächtlers“, Material-Verlag, 232 S., 24 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen