: Herdentiere im Blick
Parasitenforschung in der DDR und der Mongolischen Volksrepublik ist Thema einer Ausstellung. Im Tieranatomischen Theater ist sie noch bis Ende des Jahres zu sehen
Von Helmut Höge
Im Tieranatomischen Theater auf dem „Campus Nord“ der Humboldt-Universität eröffnete eine Ausstellung mit dem Titel „Tiere (Be)Handeln. Parasitologie zwischen Ökonomie und Ökologie“. Die Kuratoren hatten sich offensichtlich auf ein minimalistisches Konzept geeinigt. Es thematisierte in einem kleinen Raum mit wenigen Exponaten und Schrifttafeln ein Langzeitprojekt der Veterinärmediziner an der HUB (aus dem die AG Molekulare Parasitologie hervorging). Sie begannen 1955 zusammen mit Veterinärmedizinern der mongolischen Volksrepublik die Parasiten an den Herdentieren zu bekämpfen, und zwar gründlich.
Dem voraus gingen Abmachungen zwischen den Ministerpräsidenten und ein 50-Millionen-Mark-Kredit der DDR. Es sollte damit bis 1974 eine „Aufbauhilfe“ für eine effektive Parasitenbekämpfung sowie für die Wollteppich- und Lederindustrie geleistet werden. Die zu liefernde Technik sollte „mit Exporterzeugnissen ausgeglichen“ werden. 1986 kam noch eine „nichtrückzahlbare Hilfe“ in Höhe von 30 Millionen Mark dazu. Davon sollte unter anderem das mongolische Staatsgut „Ernst Thälmann“ in Bornuur nördlich der größten Stadt der Mongolei und der Hauptstadt Ulaanbaatar „entwickelt“ werden.
Der „Zweck“ war eine „Steigerung der Produktion tierischer Erzeugnisse“. Die DDR war der wichtigste Handelspartner für die Exporterzeugnisse Lederbekleidung und Teppiche. Beispiele davon hängen in der Ausstellung. Im Gegenzug lieferte die DDR Maschinen, Saatgut, Milchkühe und Schädlingsbekämpfungsmittel in die Mongolei. Damals wurde ihre „nomadische Viehwirtschaft“ gerade in eine „industrielle Produktion mit Massentierhaltung“ umgewandelt.
Mit der Wende löste man die Kolchosen auf, und jeder Mongole bekam 100 Stück Vieh. Je nachdem Schafe, Ziegen, Rinder, Yaks, Pferde, Kamele. Der mongolische Staat veröffentlicht jedes Jahr genaue Zahlen, denn danach richtet sich seine Besteuerung der wieder halbwegs nomadisierenden Viehzüchter. Auf der Ausstellung wurden mit 120 Dias verschiedene Nutztiere und ihre Krankheiten, darunter Parasitenbefall und das Impfen von Kamelen, gezeigt. In Vitrinen befanden sich konservierte Larven und Puppen der für Rinder besonders unangenehmen Dasselfliege (Hypoderma bovis), deren Larven sich durch ihre Haut und den Körper fressen, um sich zuletzt im Rücken des Rinds als Fliege zu entpuppen.
Die DDR wollte die industrielle Entwicklung des Landes beschleunigen, um mehr aus der Mongolei importieren zu können. Dazu erfuhr man im Hörsaal vom Leiter der AG Professor Matuschewski,: „Dies gelang zwar nicht, aber die wissenschaftliche Kooperation wird bis heute fortgesetzt.“ Um die Schafe von Parasiten – Zecken und Schaflausfliegen (Melophagus ovinus) – zu befreien, wurden Betonwannen gebaut, mit Schädlingsbekämpfungemitteln gefüllt und die Herden durchgetrieben. Es gibt Fotos davon, dazu ein Exponat: 1.300 Schaflausfliegen in einem Glas, die von einem einzigen Schaf abgesucht wurden. Dass dieser Parasit sich derart in den kollektivierten Herden verbreiten konnte, erklären die Ausstellungsmacher mit den „zu engen Haltungsbedingungen, wodurch besonders die Lämmer gefährdet sind.“
Leider hört die Erklärung an dieser Stelle auf, das heißt, sie bleibt anscheinend bei der im Westen herrschenden Meinung, wonach der Übergang vom Nomaden zum Sesshaften, aus dem die ersten Stadtstaaten hervorgingen, ein zivilisatorischer Fortschritt war. Dabei weiß man längst, dass eher das Gegenteil der Fall war: Die ersten Stadtstaaten (in China, im Zweistromland und in Ägypten – etwa 5000 v. Chr.) mussten Steuern erheben. Davor liefen ihnen aber die Bauern weg, woraufhin ihre bewaffneten Organe ausschwärmten und Sklaven herbeischaffen mussten. Bis zu den Griechen, den Römern und den Südstaaten wurde jede Arbeit von Sklaven erledigt. Aber nicht nur die Steuern und die Überfälle vom Land und vom Wasser, auch die Krankheiten, Epidemien und Parasiten der auf engem Raum in einem Mauerring zusammengedrängten Menschen und Tiere veranlassten die Bewohner immer wieder, fluchtartig das Stadtgebiet zu verlassen und sich den „Barbaren“ anzuschließen. Die ersten Stadtstaaten (Dynastien) existierten alle nicht lange, sie zerfielen in dezentrale Gemeinschaften. Der Direktor des agrarwissenschaftlichen Programms der Yale Universität, James Scott, zitiert in seinem Buch „Die Mühlen der Zivilisation“ (2019) aus den „Sprüchen“ (14.28): „Wo ein König viel Volks hat, das ist seine Herrlichkeit; wo aber wenig Volks ist, das macht einen Herrn blöde.“ Er spricht (in seinem Buch „Die Mühlen der Zivilisation“ 2019) gar vom „Goldenen Zeitalter der Barbaren“, das jedoch nur so lange galt, bis sich die Staaten stabilisiert hatten, was immerhin einige tausend Jahre – bis ins 16. Jahrhundert – dauerte.
Bezogen auf die mongolische Parasitologie, die identisch mit der an der HUB und FU gelehrten sein dürfte, hieße das, zu erforschen, ob die nomadische Lebensweise für Mensch und Tier nicht die bessere Krankheiten- und Parasitenbekämpfung ist – verglichen mit der industriellen Landwirtschaft mit Massentierhaltung.
Die Kuratoren versprechen, einen ungewöhnlichen Blick auf den Parasitismus zu werfen, und erwähnen in diesem Zusammenhang den Philosophen Michel Serres mit seinem Buch „Der Parasit“ (1987), in dem eine parasitische Unschärfe umrissen wird („Manchmal sind die besten Wirte auch die besten Parasiten“).
Die Tierproduktion habe eine Schlüsselfunktion in der mongolischen Gesellschaft, heißt es, wenn man die Parasiten nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch begreife, dann seien sie nicht bloß Schädlinge, sondern auch „Stabilisatoren“. Diese quasipositive Seite des (Serres’schen) Parasiten führen die Kuratoren jedoch nicht weiter aus. Es gibt zudem noch einen ganz anderen Serres, der über den frühen Ackerbau der Sesshaften urteilte: „Es ging nicht darum, die Erde durch Bearbeitung fruchtbar zu machen, es ging um Ausmerzen, Unterdrücken, Vertreiben, es ging um Zerstören, das Pflugmesser ist ein Opfermesser. Es schafft ein leeres Feld, das einen Bruch des Gleichgewichts herbeiführt, eine saubere, durch Vertreibung, Vernichtung geschaffene Fläche. Eine Fläche der Reinheit, eine Fläche der Zugehörigkeit.“
Während der Sesshafte „einen geschlossenen Raum unter den Menschen aufteilt, verteilt der Nomade die Menschen und Tiere in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist“. Anny Milovanoff schreibt in ihrem Essay „Die zweite Haut des Nomaden“: „Der Nomade hält sich an die Vorstellung seines Weges und nicht an eine Darstellung des Raums, den er durchquert. Er überlässt den Raum dem Raum.“
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