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Eskalation ins nicht so Feine

Das Musikfestival CTM lädt einen Elektronik-Popstar und wagt sich weit hinaus aus seiner Komfortzone ins ferne Steglitz. Was ist nur mit den Laptopklicker*innen los?

Von Steffen Greiner

Ein Fuchs steht am Weg, kurz vor dem Himalaja, und lässt sich nicht beeindrucken von den zwei, drei Besucher*innen des Botanischen Gartens an diesem Nachmittag. Es ist leer, dennoch dürften es ein paar mehr sein als sonst an einem Wintermontag. Denn in diesem Jahr hat sich das CTM-Festival weit aus seiner Komfortzone gewagt. Verlässt das Programm den Ring sonst allenfalls, um in Wedding eine Zehe ins kalte Wasser zu stippen, fährt die Szene dieses Jahr gleich bis nach Steglitz. Was zu der absurden Situation führt, dass die soundinstallative Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit der Botanik durch die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves und die kolumbianische Klangverhandlerin Lucrecia Dalt im Vergleich zur Groteske des „Bierpinsels“ auf dem Hinweg fast vertraut wirkt.

Die zentrale Tropenhalle wird bis Sonntag überschrieben durch eine klangliche Intervention. „It’s like walking through the rainforest“, erklären die Menschen, die den Gästen Kopfhörer ausgeben, und es besteht die Gefahr, dass tatsächlich vor allem das hängen bleibt. Denn während man mit Kopfhörern in einer durch die eigene Bewegung gesteuerte Abfolge von Soundpattern, Feldaufnahmen von Stimmen und Geräuschen des Regenwaldes durch das üppige Grün wandert, nimmt die Schönheit einen so sehr gefangen, dass in den Hintergrund tritt, was der Arbeit „You Will Go Away One Day But I Will Not“ zugrunde liegt: eine Zusammenarbeit mit Menschen aus dem Guarani-Reservat in Brasilien, die den größtenteils nach Europäern benannten Pflanzen ihrer Region eigene Namen gegeben haben. Diese öffnen einen ganz anderen Bedeutungskosmos.

Auseinandersetzungen mit kolonialer Forschung ist ein Schwerpunkt dieser Ausgabe. Und auch das diesjährige Motto „Liminal“ bezieht sich auf ein ethnologisches Konzept: Schwellenerfahrungen nach dem Herauslösen aus sozialen Ordnungen. Dennoch scheint es, als würden die Festival-Macher*innen in diesem Jahr eher niedrigschwellig arbeiten. Die ersten Festivaltage zeigten jedenfalls erfreuliche Ausnahmen vom Einerlei von Drone und Knöpfchengedrehe.

Qualifizierte das „Festival for Adventurous Music“ sonst eher Menschen, die mehr als 30 Prozent der auftretenden Künstler*innen kannten, zum sofortigen Erwerb eines Sound-Studies-Doktorgrades, haben die Ku­rator*innen dieser Edition überraschend einen echten Popstar in die Eröffnungsfeier gesetzt: Der Kopf der Indie-Gruppe The XX und Meister des Electro-Schönklangs, Jamie XX, legte am ersten Freitag im Berghain auf, genauer: morgens um acht in der kleinen Panorama Bar, als Abschluss eines Programms, das sich tatsächlich mehr nach einem Abend im Berghain angefühlt hat als nach Schwanzvergleich via Frickelei. In einem abwechslungsreichen Programm in der Pa­no­rama Bar legte etwa der marokkanische DJ Guedra Guedra ein euphorisches Set mit deutlichen Bezügen zu afrikanischen Pop hin. Unten, auf dem Hauptfloor, überzeugte das Punk-Techno-Duo Giant Swan mit Mut zur Eskalation ins nicht ganz so Feine.

Die ersten Festivaltage zeigten Ausnahmen vom Drone-Einerlei

Längst kein Geheimtipp mehr ist die britische Producerin Henrietta Smith-Rolla, die unter dem Alias Afrodeutsche auftritt, Schwellenidentitäten thematisiert und mit diesem Künstlernamen eigentlich ins Line-up der nächsten Berliner Identitätsfeierei am Brandenburger Tor gehört. Afrodeutsche spielt an diesem Abend mal die Möglichkeiten der Soundanlage aus, dann wiederum schickt sie das Publikum aber auch in eine tatsächlich so betitelte Schweigeminute. Ein bewegendes Set, das gekonnt zwischen Dichte und Raum balanciert, zwischen Kopf und Party, wie das beim CTM nicht gelingt.

Auch dem Tanzstück, das das Festival offiziell eröffnet – „Frontera“ vom Ensemble Animals of Distinction – gelingt am Samstag dieser Drahtseilakt, wobei freilich die leitmotivistische Grenzmetapher etwas plump daherkam. Es retten die Schauwerte, die mit dem spektakulären Lichtdesign zusammenhängen: Da wurde die Bühne zum überdimensionalen Scanner, jagten Schlaglichter die Akteur*innen, zogen Lichtfäden umschlungene Tänzer*innen auseinander. Dazu hetzte die kanadische Postrock-Gruppe Fly Pan Am einen manisch-industriellen Sound über die Bühne des HAU 1. Im Anschluss gab es den Sekt der kanadischen Botschaft, der sonst dem etwas hochkulturelleren Schwesterfestival Transmediale vorbehaltenen ist, und eine Party, die von Schwellen kündigte, die Berlin wohl leider schon lange überschritten hat: Das CTM verabschiedete sich vom Club Griessmühle, der in dieser Woche die letzte Party am Kanal feiern wird – unter anderem mit einem Konzert der Avant-Pop-Musikerin Lafawndah und einer Nacht mit dem jungen Berliner Kollektiv Ghettoraid, das zeigt, dass trotzdem noch immer was gehen kann in dieser Stadt.

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