Eine junge Schriftstellerin

Anne Frank hat den Holocaust nicht überlebt. Wie aus ihrem im Versteck in Amsterdam geschriebenen Tagebuch ein Roman werden sollte, stellte der Verleger Joachim von Zepelin im Brecht-Haus vor

Ein schönes Porträt von Anne Frank Foto: Secession Verlag

Von Annika Glunz

Als sie im Alter von 13 Jahren mit dem Schrei­ben begann, war sie sich sicher, dass sowieso nie irgendwer ihre Texte in die Hände bekommen und lesen würde. Sie schrieb Tagebuch, weil sie ihrem Herzen Luft machen wollte und es ihr in sämtlichen Beziehungen an Vertraulichkeit mangelte. Sie begann Gefallen zu finden am Schrei­ben der Briefe an ihre imaginäre Freundin Kitty, und der Wunsch, ihre Texte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Schriftstellerin zu werden, manifestierte sich. Sie überarbeitete ihre Tagebücher und plante sie als Buch, das den Titel „Das Hinterhaus“ tragen sollte.

Heute ist „Das Tagebuch der Anne Frank“ ein Werk der Weltliteratur, das in über 70 Sprachen übersetzt wurde. Joachim von Zepelin hat die von Anne Frank überarbeitete Version unter dem Titel „Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen“ im Secession Verlag herausgegeben.

Der Tag Am Montag ist Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, in Erinnerung an den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz. Zum 75. Jahrestag gibt es dazu eine Reihe von Gedenkveranstaltungen und Kranzniederlegungen in Berlin. Eine Sammlung von Terminen findet sich etwa auf www.dpgberlin.de.

Das Tun Im Blick auf den Gedenktag findet im Berliner Ensemble am Sonntag der Thementag „Entsicherte Gesellschaft?“ statt. Das Programm startet um 13 Uhr, es wird auch über „Antisemitismus heute“ diskutiert, der Eintritt ist frei. Am Montag gibt es in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche um 19.30 Uhr ein Gedenkkonzert mit dem Sinfonieorchester und Chor Thelma Yellin aus Tel Aviv, gespielt wird neben Beethoven und Mahler Zeitgenössisches aus Israel, der Eintritt ist frei. Musik ist mit dem Gitarristen Marc Ribot auch Teil von „Redemption Blues“, einem Dokumentarfilm, der der Frage nachgeht, wie es weitergehen soll, wenn niemand mehr die Schoah bezeugen kann. Am Montag ist er in der Blumenthal Akademie gegenüber dem Jüdischen Museum um 19 Uhr zu sehen, im Anschluss findet ein Gespräch mit Regisseur Peter Stastny statt, Eintritt frei. Und dem Aufruf des Internationalen Literaturfestivals Berlin, zum Gedenktag weltweit „Shoah“ von Claude Lanzmann zu zeigen, folgt man in Berlin am Sonntag etwa in der Janusz-Korczak-Bibliothek in der Berliner Straße (ab 10 Uhr), KulturMarktHalle in der Hanns-Eisler-Straße (ab 12 Uhr) und Heinrich-Böll-Stiftung (ab 10 Uhr); in der Akademie der Künste im Hanseatenweg ist die über neunstündige Filmdoku am Montag zu sehen (ab 10 Uhr).

„Es gibt zum einen das spontane Tagebuch. Das ist die Variante A. Dann gibt es die von Anne Frank überarbeitete Version, Variante B“, erklärte von Zepelin im Gespräch mit Wolfgang Benz, Historiker und Antisemitismusforscher im Brecht-Haus. Nach Anne Franks Tod im KZ Bergen-Belsen wurden die Tagebücher an ihren Vater Otto Frank weitergegeben. „Der hat ein Amalgam daraus gemacht, Variante C“, so von Zepelin. „Erst nach dessen Tod 1980, als die Tagebücher ans Niederländische Zentrum für Kriegsdokumentation vererbt wurden, konnte sich kritisch mit ihnen befasst werden. Die Tagebücher wurden mit Ergänzungen versehen, das ist Variante D, die verbindliche Version.“ Eine separate Veröffentlichung nur der Variante B der Tagebücher habe es bisher noch nicht gegeben. „Ich denke aber, dass diese die einzige ist, die Anne Franks Wunsch nach Veröffentlichung so nah wie möglich kommen kann“, ist sich von Zepelin sicher. „Mir geht es auch darum, das literarische Talent dieses Mädchens hervorzuheben.“

Er beginnt seine Lesung mit einer Passage, die Anne Frank in der Überarbeitung herausgestrichen hatte – sie schreibt hier über Sexualität und das schlechte Verhältnis zu ihrer Mutter, dass sie diese nicht liebe. „Otto Frank hat diese Passage in seiner Überarbeitung wieder hinzugefügt“, berichtet von Zepelin. Andere vorgetragene Passagen beschreiben jüdisches Leben in den Hinterhöfen Amsterdams oder verdeutlichen ihr Verhältnis zu Politik und gesellschaftlichen Zuständen: „Es gibt keine größere Feindschaft auf der Welt als die zwischen Deutschen und Juden“, heißt es an einer Stelle. Als literarisch besonders wertvoll hob von Zepelin die „Ode an meinen Füllfederhalter“ hervor, in der Frank ihrem ehemaligen Schreibgerät eine kleine Liebesgeschichte widmet.

Moderator Wolfgang Benz kam auf die geläufige und auch in Anne Franks Tagebüchern so geschilderte Erzählung zu sprechen, Menschen seien in Viehwaggons in Kon­zen­tra­tions­la­ger deportiert worden: „Als Historiker interessiert mich das natürlich. Das stimmt nämlich nicht. Menschen aus Westeuropa wurden in Personenwagen transportiert.“ Seine daran anschließende Frage, ob diese Behauptung von Anne Frank selbst kam oder im Nachhinein hinzugefügt wurde, konnte von Zepelin nicht beantworten.

Als literarisch besonders wertvoll hob von Zepelin die „Ode an meinen Füllfederhalter“ hervor

Das Publikum zeigte sich beeindruckt von der Hellsichtigkeit und Reife Anne Franks, die die Tagebücher ja im Alter von 13 bis 15 Jahren schrieb. Warum sie die ihre Mutter betreffende Passage herausgestrichen habe, wollte eine Zuhörerin wissen. „Man kann beim Lesen deutlich merken, wie sich Anne Frank beim Schreiben, insbesondere das Verhältnis zu ihrer Mutter betreffend, selbst beruhigt hat“, vermutete von Zepelin.

Auf eine Frage nach der Rentabilität einer solchen „Liebhaber­edition“ hin, kam er auf Schwierigkeiten zu sprechen: „Ich hätte mir einen anderen Umgang mit dem Stoff gewünscht. Ich ärgere mich über die Art und Weise, wie Claims verteidigt werden.“ Beispielsweise darf „Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen“ nicht in den Niederlanden erscheinen. „Die haben dann tatsächlich Spione darauf angesetzt, die versucht haben, aus den Niederlanden dieses Buch zu bestellen, um uns zu zeigen, auf welche Art und Weise es doch möglich ist, und uns zu drohen“, berichtete von Zepelin. Am Ende zeigte er sich jedoch zufrieden: „Die Edition landete auf Platz 10 der Spiegel-Bestsellerliste Belletristik – pünktlich zu Anne Franks 90. Geburtstag.“

Anne Frank: „Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen“. Secession Verlag, Zürich 2019, 208 Seiten, 18,50 Euro