piwik no script img

Das Land dersehr vielen

Bald wird Nigeria die drittgrößte Bevölkerung der Erde haben. Doch schon heute macht das Wachstum den Menschen zu schaffen. Die Infrastruktur und der Arbeitsmarkt wachsen nicht schnell genug mit

Nicht nur als Zentrum der afrikanischen Kulturindustrie zieht Lagos Millionen von Menschen an Foto: Thomas Imo/photothek.net/imago

Tundun Aihie ist 41 Jahre alt, eine Mutter aus der Arbeiterklasse. Sie lebt in Lagos, der größten Stadt Afrikas. Und wie Millionen von Nigerianer*innen hat sie mit den Folgen der Bevölkerungsdichte in ihrem Land zu kämpfen. „Jeden Morgen stehe ich vor 4 Uhr in der Früh auf“, sagt sie und kümmere sich um ihr 16 Monate altes Baby. Um 5.15 Uhr steigt sie in ein Sammeltaxi. „Im Durchschnitt verbringe ich täglich zwei bis drei Stunden mit dem Weg zur Arbeit“, sagt sie. Die Dreistundenstrecke ist an einem Sonntag ohne Berufsverkehr in 35 Minuten zu schaffen. Deutlich länger als drei Stunden musste Aihie warten, wenn sie zu einer Schwangerschaftsuntersuchung in das allgemeine Krankenhauses von Lagos gekommen war – obwohl sie wegen ihres Alters auf der Liste der Patient*innen mit „Risikoschwangerschaft“ stand.

Ihr Alltag ist exemplarisch für die Herausforderungen, denen viele Ni­geriane­r*innen, insbesondere in den Städten, heute gegenüberstehen. Die UN gehen davon aus, dass Nigeria bis 2050 das bevölkerungsmäßig drittgrößte Land der Welt sein wird. Das Census Bureau der USA schätzt, dass dann 402 Millionen Menschen in Nigeria leben werden – doppelt so viele wie heute.

Die Regierung hat schon 2005 eine na­tionale „Bevölkerungspolitik für eine nachhaltige Entwicklung“ beschlossen und eingeführt. Das Bevölkerungswachstum nennenswert zu verlangsamen, vermochte sie damit nicht: Zwischen 2005 und 2015 stieg die Zahl der Menschen im Land um 50 Millionen. Und noch immer gilt eine möglichst große Zahl von Kindern als Statussymbol.

Dabei leben in Nigeria die weltweit höchste Anzahl von Kindern, die keine Schule besuchen. Die öffentlichen Schulen sind schlecht ausgestattet. Zwar gibt es deshalb überall im Land private Bildungseinrichtungen, von der Grundschule bis zur Universität. Doch die sind in der Regel zu teuer für die meisten Menschen. Die Folge ist eine wachsende Zahl junger Nigeria­ne­r*in­nen, die schlecht auf den Arbeitsmarkt vorbereitet ist.

ist Redakteurin bei der Tageszeitung This Day in Lagos.

Auch die Arbeitslosigkeit ist durch das Bevölkerungswachstum hoch, ebenso wie die Lebenshaltungskosten. Viele Nige­ria­ne­r*innen wiederum sind durch diese gezwungen, zwei Jobs zu haben: einen Tagesjob und das, was allgemein als „Nebenjob“ bezeichnet wird.

Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land entscheiden sich viele Menschen für die Migration. Manche geraten dabei in die Hände von Menschenhändlern, die Frauen nach Europa bringen und dort zur Prostitution zwingen (siehe Seite 3). Andere sterben auf dem Weg durch die Sahara oder ertrinken im Mittelmeer. Der nigerianisch-italienische Filmemacher Alfie Nze weist in seiner „Unerzählten Geschichte der Nigerianer in Italien“ darauf hin, dass nicht etwa Menschen aus dem kriegszerrütteten Syrien die größte Gruppe unter den Papierlosen in Italien sind – es sind vielmehr Ni­ge­ria­ner*innen.

Denn der Jugend fehlt es an Perspektiven im eigenen Land. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt heute bei 17,9 Jahren. Und mehr als die Hälfte der Menschen in Nigeria ist unter 30 Jahre alt.

Die Infrastruktur hält mit diesem Bevölkerungswachstum nicht Schritt. Das Leben in Lagos ist geprägt von ewigen Staus und einem schlechten öffentliches Verkehrssystem, den Wohnungsmarkt dominieren minderwertige Häuser in den Townships, die zu exorbitanten Preisen vermietet werden.

All das bedeutet nicht, dass das Land insgesamt im Niedergang wäre. Nigeria ist heute für viele Investoren ein Ziel. Die große Bevölkerung in Kombination mit den hohen Preisen machen es zu einem verlockenden Markt. Lagos ist die Hauptstadt der Kreativwirtschaft, Musik, Mode, visuelle Kunst, Literatur und Filme sind in Afrika nicht mehr dieselben, seit Nigeria seine kreative Energie entdeckt hat. Das Land zieht einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Showgeschäft an – denn hier wartet ein riesiges Publikum.

Doch wenn es der die nigerianischen nicht gelingt, die Zahl der Geburten zu begrenzen und den Ausbau der Infrastruktur zu beschleunigen, wird die Entwicklung des Landes stocken. Denn dann werden jene, deren Fähigkeiten gebraucht werden, es verlassen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen