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Der Krake als Lebens­modell

In der Kestnergesellschaft in Hannover setzen sich Eva Kot’átková und Hassan Khan mit Auswirkungen sozialer Normen auf Vorstellungen von Psyche und Körper auseinander

Von Bettina Maria Brosowsky

Erinnert sich noch jemand an den Kraken Paul? Das Tier, im Großaquarium eines kommerziellen Freizeitparks in Oberhausen gehalten, genoss 2010 mediale Aufmerksamkeit, als es alle Spielgewinne der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika richtig „vorhersagte“ – das Team wurde Dritter –, sowie den Endspielsieg Spaniens.

Ungeachtet dieser singulären Qualität als Orakel zeichnet das achtarmige Meerestier eine erstaunliche physische Besonderheit aus: Es besitzt ein leistungsfähiges Gehirn mit bemerkenswerter Lernfähigkeit sowie ein hochentwickeltes eigenes Nervensystem in seinen vier Armpaaren, die somit unabhängig vom Gehirn agieren können. Wenn man so will, sind seine dezentral organisierten kognitiven Schalteinheiten ein Gegenmodell zum hierarchisch strukturierten Menschen, dessen Geist, im kleinen Gehirn, sich von dem großen Körper scheidet.

So sieht es zumindest die tschechische Künstlerin Eva Kot’átková, 1982 in Prag geboren, und fordert in ihrer aktuellen Ausstellung in der Kestnergesellschaft mittels Plakat schon mal ganz elementar: „Rights for each arm of an octopus“.­ Diese Plakatierung, unter anderem im Treppenhaus, flankiert ihre große begehbare, und durch Performances aktivierte Installation „The Machine for restoring­ empathy“, die nun erstmals in Deutschland gezeigt wird. Aus Textilien und menschlicher Kleidung arrangiert, mag sie an einen Kraken erinnern.

Das Tier steht jedoch für viel mehr als seine erstaunlichen Fähigkeiten, Kot’átková sieht in ihm eine neue Perspektive menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns: Die Simultaneität von Verstand und Emotion, wie sie noch Kleinkinder besitzen. Ihr sich entwickelndes Ich-Bewusstsein lässt sie dann ihr Selbst von der Umgebung trennen. Dass ein dergestalt nun erwachsener Mensch nur noch ein Fragment sein kann, demonstriert Kot’átková in diversen Metallplastiken, die an Skelette, Folterwerkzeuge oder antiquierte Prothesen erinnern, meist mit sorgfältig genähtem Textil, etwa viel zu langen Ärmeln, bestückt.

Da will nichts mehr recht zusammenpassen, der Mensch wird Opfer seiner aberwitzigen Vorstellungen der eigenen Spezies

Da will nichts mehr recht zusammenpassen, der Mensch wird Opfer seiner selbstgemachten, aberwitzigen Vorstellungen und sozialen Normierungen der eigenen Spezies. In einer begleitenden Serie roter Tuschezeichnungen verschieben sich körperliche Deformationen weiter bis zur Qual. Ein textiler Sack mit Kragen etwa scheint nur noch einen Ei-förmigen Leib zusammenzuhalten, für nicht mehr vorhandene Gliedmaßen stellt er immerhin noch vorsorglich Öffnungen bereit.

Ein anderer, abstrahiert menschlicher Torso löst sich in seinem Unterleib in textiles Geschlinge­ auf – zwei, nun arg zu lange Ärmel. Und dazwischen Scheren oder bedrohliche Fingerpaare, teils mit Zähnen. Das Nähen und seine Techniken sind Bestandteil der performativen Kritik Kot’átkovás an einem destruktiven Verständnis des Menschen, seinem Machtgebaren gegenüber seinesgleichen und der Umwelt.

Und doch scheint der Mensch ja nicht alles im Griff zu haben, auf seine häusliche Umgebung etwa reagiert er durchaus irrational, gar pathologisch. Eine vertikale Polarität ordnet Dachboden, Normalgeschossen und Keller psychologisch ganz unterschiedliche Qualitäten zu. Der Keller ist das „dunkle Wesen des Hauses“, das an den unterirdischen Mächten teilhat, beschrieb es Gaston Bachelard in den 1950er-Jahren in seiner „Poetik des Raumes“.

Eva Kot’átková bevölkerte nun den Keller des Ausstellungshauses, einst Unterbaugelass eines Hallenbades, jetzt Zentrale der Raumlufttechnik, mit Akteuren, die wie Wesen zwischen Mensch und Wassergestalten erscheinen. In nebelig-blauer Atmosphäre sinnieren sie über eine bevorstehende große Veränderung, und ob oder wie sie darauf reagieren könnten. Ihre Performance wird im Dachgeschoss projiziert, nach Bachelard ein Raum dem Himmel nah, von der rationalen Klarheit einer konstruktiven Funktionsform beseelt.

Auch dies ist ein Fingerzeig Kot’átkovás auf einen wünschenswerten ganzheitlichen Organismus, nicht nur eines Gebäudes. Die beklemmenden Momente in all ihren Arbeiten sind also nicht Ausdruck düsteren Pessimismus, sondern wollen auf andere, überraschende, eben „empathische“ Weltsichten verweisen. Und sei es nur, für einen Moment unerwartet Ruhe zu empfinden – nach einer zwölfstündigen Arbeitsschicht im festsitzenden Aufzug, wie ein weiteres Video zeigt.

In den unteren Sälen der Kestnergesellschaft stellt Hassan Khan sein multimediales Werk vor. Der 1975 in London Geborene, in Berlin und Kairo Lebende, liebt die Vielfalt. Neben grotesk aufgeblasenen Tierkörpern ist etwa sein älteres, etwas düsteres Video „Host“ zu sehen, dessen Handlung zwischen Folter und ärztlicher Fürsorge oszilliert. Mehrdeutigkeit ist also auch bei Khan bewusst im Spiel.

Eva Kot’átková. In the body of a fish out of water“ und „Hassan Khan. Host“: bis 9. 2., Hannover, Kestnergesellschaft

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