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Vibrierende Körperöffnungen

Rückgriff auf Mary Shelley, Ausblick auf Liebe und Sex in Zeiten von KI: Jeanette Wintersons faszinierender Roman „Frankissstein“

Hoffentlich ist da auch alles so verkabelt, dass es im Bett flutscht: Sexroboter der kalifornischen Firma Realbotix Foto: Graham walzer/NYT/Redux/laif

Von Marlen Hobrack

Wenn Roboter träumen könnten, wovon träumten sie dann? Und könnte ihnen eine Geschichte wie Frankenstein, die von der Hybris des fortschrittsgläubigen Menschen erzählt, der sich zuletzt über den Tod hinwegsetzen will, Albträume bereiten? Wenn unser Unbewusstes nicht nur die Träume produziert, sondern auch das metaphorische Pferd ist, dem unser Bewusstsein wie ein Reiter aufsitzt, hieße das vielleicht, dass künstliche Intelligenz (KI) vor jedem Bewusstsein zunächst ein Unbewusstes erlangen müsste. Wie sonst könnte sich der künstliche Verstand regenerieren? Oder wird das Unbewusste obsolet, wo sich die Intelligenz des Körpers entledigt?

So viele Fragen, die sich auftun angesichts des Fortschreitens von KI und Bio-Engeneering! Die Medizin erweist sich schneller darin, Lammföten in künstlichen Uteri heranwachsen oder Quantencomputer die Grundlage für künstliche Intelligenz legen zu lassen, als ihre Folgen für unser Menschensein zu durchdenken. Diese Lücke füllt die Literatur. Von jeher fabuliert sie, wo andere nur angestrengt nachdenken, beschreibt sie, was anderswo nur geahnt werden kann. Das gilt für Mary Shelleys legendären „Frankenstein“ ebenso wie für Jeanette Wintersons „Frankissstein“.

„Frankissstein“ ist ein faszinierender Text über Liebe, Leiber und die Frage, inwiefern die eine an die anderen gekoppelt ist. Wie der Titel, ein Kofferwort aus Frankenstein und Kiss, vermählt auch der Text mehrere Ebenen. Wir begegnen Mary Shelley, wie sie in feucht-kalten Nächten, die sie an der Seite der blassen Brust ihres Mannes verbringt, ihren Frankenstein erdenkt. Da ist sie gerade einmal 21 Jahre alt, hat aber bereits ein Kind verloren. Es ist unter anderem dieser Verlust, der sie, neben den Gesprächen mit ihren Reisebegleitern Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori, über das Leben nachdenken lässt. Wenn man könnte, würde man das Leben endlos verlängern? Oder an ein erstes Leben ein zweites, drittes – unendlich viele Leben – anfügen? Ein zweites Leben freilich wäre an eine Vorbedingung geknüpft, die der Wiederauferstehung nämlich. Dafür aber müssen Menschen Gott spielen. Oder ist es viel einfacher, in etwa so, wie es die Galvanisten ihrer Zeit vermuten: dass es lediglich des Lebensfunkens bedarf, der, einem toten Leib eingehaucht, das Räderwerk Mensch wieder in Gang setzt?

Robotische Gespielinnen

Unterbrochen werden die tagebuchartig dargelegten Gedanken Marys von einer anderen Zeit, einer anderen Person. Wir begegnen Ry, einst eine Frau, heute ein Mann. Jedoch kein richtiger, wenn es nach Sexroboterhersteller Ron geht, dem Ry auf einer Messe zum Thema Robotik und KI begegnet. Denn ein echter Mann hat schließlich etwas zwischen den Beinen hängen. Ron sieht vieles so einfach, um nicht zu sagen: binär-logisch. Es gibt Männer und Frauen. Und zur Befriedigung der Männer genügen in einer nicht allzu fernen Zukunft (genau genommen steht sie praktisch vor der Tür) Sexgespielinnen in Form von Robotern. Die sind, der einfacheren Handhabbarkeit wegen, nicht nur klein und zierlich, sondern auch zusammenklappbar. Auf Wunsch werden sie mit einer praktischen Aufhängung am Rücken geliefert, zur einfachen Wandbefestigung. Schließlich will man ja nicht nur liegend im Bett Sex haben.

Schaurig-schön malt uns Jeanette Winterson die Zukunft mit Sexrobotern aus. Natürlich produziert Ron seine Gespielinnen in allen möglichen Hautfarben, in einfachen wie in der Luxusvarianten. Nur dunkelhäutige Roboter gibt es nicht in der Low- Cost-Sparte, das fänden Ron und seine intersektional-feministisch denkende Mutter eben irgendwie geschmacklos. Überhaupt nicht geschmacklos aber finden sie die vibrierenden Körperöffnungen der Puppen (drei an der Zahl!), die dem Käufer oder Mieter größte Befriedigung versprechen. In männlicher Form gibt es sie noch nicht, die Befriedigung von Frauen ist scheinbar anspruchsvoller. Apropos Anspruch: Einen allzu hohen IQ sollen die Roboterdamen nicht vortäuschen können, welcher Mann wünscht sich schon eine Sexpartnerin, die ihm intellektuell überlegen ist? Eben.

Claire, so heißt Rons Robotergespielin, kann praktischerweise unterwegs in einer Reisetasche verstaut werden. Einer Adidas-Tasche. Fans der Band Korn wissen, dass Adidas auch ein Akronym ist: All Day I Dream About Sex. Was soll der Mensch auch sonst machen, nachdem ihm Roboter die harte körperliche (Sex-)Arbeit abgenommen haben und KI ihm auch noch das Denken und Erfinden streitig macht? Da bleibt dann doch nur noch, dem gelangweilten Geist und dem unterforderten Körper eine Ersatzbefriedigung zu verschaffen. Und die Liebe bleibt eben auf der Strecke. Nicht so jedoch für Ry, die sich in den Arzt Victor Stein verliebt, natürlich einen Wiedergänger von Mary Shellys Frankenstein.

Jeanette Winterson: Frankissstein. Aus dem amerik. Engl. von Michaela Grabinger und Brigitte Walitzek. Verlag Kein & Aber, Zürich 2019, 400 S., 24 Euro

Grandios verwebt Winterson nicht nur Erzählebenen und wechselnde Bewusstseinsträger in ihrem Roman. Sie führt den Leser quasi nebenbei tief in die Felder feministischer Philosophie, Roboterethik und KI-Forschung. Während Held*in Ry für sich selbst das Denken in binärer Logik aufgegeben hat, sich nicht als Transmann denkt, sondern als divers, können sich andere, allen voran Ron, nicht von der binären Logik trennen, die längst nicht nur Geschlechtskörper umfasst. Natürlich muss man sofort an Donna Haraway denken, die große Denkerin des Anderen außerhalb der binären Logiken von künstlich und menschlich, menschlich und tierisch, biologisch und technisch. Bei Haraway stoßen wir auf eine ganz neue Logik, die die philosophischen Schranken, die das westliche Denken seit über 2.000 Jahren prägen, aufzulösen sucht.

Ikonen im Cyberspace

Das gilt jedoch nicht weniger für Winterson selbst: Bereits in ihrem 2000 erschienenen Roman „Das Powerbook“ bewegen sich die Charaktere auf unterschiedlichen Realitäts­ebenen durch den Cyberspace. Auch hier schichtet Winterson Erzählebenen übereinander und verquickt sie zudem mit literarischen Ikonen: Ovids Metamorphosen und Virginia Woolfs Orlando. Wirklich erstaunlich, mit welcher erzählerischen Leichtigkeit die Texte dabei daherkommen. Schließlich geschieht es ja nicht selten, dass in ambitionierten Romanen Erzählstränge und Ebenen ausufern und den Leser ratlos zurücklassen. Nicht so bei Winterson: Wie die Science-Fiction-Ikone Mary Shelley gelingt es auch ihr, Bilder für die dystopischen Möglichkeiten der Wissenschaft zu entwickeln. Bei Letzterer jedoch strotzen sie nur so von Humor und Leichtigkeit.

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