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„Die Musik ist deine Uhr“

Der Circus Roncalli verbindet traditionelles Handwerk und moderne Technik wie Tier-Hologramme. Ein Besuch bei den Proben zum „Weihnachtscircus“ mit Direktor Bernhard Paul und seinen Kindern auf Rollschuhen

Von Julia Lorenz

Jetzt riecht’s gleich nach Pferdeäpfeln!“, sagt Bernhard Paul, als er die Tür vom Vorraum des Tempodroms zur Manege öffnet. Auf dem Bodenrund leuchtet das Roncalli-Logo, sonst strahlt alles, von den Lichtern bis zum Samtvorhang, in warmen Rot- und Orange­tönen. Pauls Ankündigung aber ist ein Scherz gewesen: Wo gleich ArtistInnen zu den Proben für den „Roncalli Weihnachtscircus“ einmarschieren, ist weit und breit kein Pony oder gar Tiger zu sehen. Schon seit 1991 arbeitet der Zirkus, der derzeit mit seinem Feiertagsprogramm in Berlin gastiert, nicht mehr mit Wildtieren – seit zwei Jahren ist die Manege nun gänzlich tier- und obendrein plastikfrei. Bernhard Paul, geboren in Österreich, gründete den Zirkus 1975 gemeinsam mit André Heller und trat jahrelang selbst als Clown „Zippo“ auf.

Gerade ist Paul, als Direktor der Dienstälteste bei Roncalli, aus Köln angereist. Morgen soll die Premiere stattfinden, aber noch sitzt nicht jede Nummer passgenau. „Weniger Stress, mehr Strass“, sagt Paul gelassen. Der 72-Jährige trägt Schnauzbart, eine getönte Brille und das weiße Haar kinnlang: ein Bonvivant, den ein altmodischer Glamour umweht. Paul beschreibt den Zirkus als „Gegenwelt“, während er das Treiben bei den Proben beobachtet. ArtistInnen und TänzerInnen, manche durchtrainiert, mit breitem Kreuz und überwältigender Physis, andere feingliedrig, stapfen oder tippeln durch die Manege. Bei aller Verpflichtung zum leichten Entertainment ist Zirkus auch immer ein Gegenentwurf zu den durchnormierten Körperidealen der Unterhaltungsformate in „Fernsehgarten“ und Mehrzweckhallen. Die Mitwirkenden bei Roncalli kommen aus 28 Ländern.

Paul setzt sich auf eine Bank am Rand und wartet auf den Auftritt der „Kinderlein“. Seine Töchter Lili und Vivian und sein Sohn Adrian treten mit einer Artistennummer auf Rollschuhen auf. Gerade wird auf der Bühne eine Plattform in die Waagerechte gebracht, auf der sie gleich herumrasen werden. Für Bernhard Paul ist der Zirkus, wie er sagt, „die Mutter aller Schlachten. Die erste Massenunterhaltung, bevor es Kino oder Fernsehen gab.“ Noch immer ist beim Zirkus einiges, wie man es aus alten Zeiten kennt, aus Filmen wie Fellinis „La Strada“: Die Mitwirkenden wohnen tatsächlich noch in Zirkuswägen statt in deutlich billigeren Hostels. „Auf Saison haben wir rund 200 Wägen dabei“, sagt Paul. „Die Artisten wollen das gar nicht anders. Du wohnst am Arbeitsplatz, und die Musik ist deine Uhr. Alle wissen, zu welcher Melodie sie zu den Proben erscheinen müssen.“

Aber sosehr der Zirkus seine Mythen und Traditionen braucht, kann er sich doch über gesellschaftliche Entwicklungen nicht ganz hinwegsetzen. Zum Beispiel über die zunehmenden Skrupel der Leute, sich dressierte Tiere anzuschauen. Nicht nur Naturschutzorganisationen, auch die BesucherInnen hätten sehr positiv darauf reagiert, dass die Tiere aus dem Programm genommen wurden, erzählt der Direktor. Weniger begeistert sei die Konkurrenz gewesen, „denn die ist jetzt natürlich im Zugzwang“, sagt Paul. Riesenhafte Tiere gibt es in der Show trotzdem zu sehen: Elefanten stampfen als Hologramme durch die Manege, projiziert auf ein feines Netz, das in der Manege aufgespannt wird. Erste Videos der Hologramm-Elefanten verbreiteten sich vor wenigen Monaten so rasant im Netz, dass der Zirkus Roncalli plötzlich in Social-Media-Feeds in aller Welt trendete.

„So eine Show ist wie der Kölner Dom: nie fertig“, sagt Paul. Manchmal gehe er gezielt auf internationale Zirkusfestivals, um neuen Talenten nachzuspüren. Aber manche seiner Entdeckungen sind auch Zufallsfunde. „Es kommt schon mal vor, dass ich mir etwa eine Show in Spanien anschaue und dort einen Clown sehe, den niemand wirklich gut findet. Aber ich sehe seine Qualitäten – und fördere dann das Potenzial, das ich in ihm sehe.“

Dann: Auftritt der Familie Paul. Das Orchester auf der Empore spielt eine rasante, aufpeitschende Melodie mit Streichern und Trompeten, die dramatisch klingen wie in einem Agentenfilm. Lili Paul betritt die Bühne in Rollschuhen und zeigt einen Handstand, bevor ihr partner in crime die Plattform entert. Sie fassen sich an den Händen und drehen sich pfeilschnell im Kreis, als es dann passiert: In der Beschleunigung lösen sich Lillis berollschuhte Füße vom Boden; ihr Partner wirbelt sie, sich weiter rasant im Kreis drehend, durch die Luft. Ein kleines Wunder der Fliehkraft, das die drei Paul-Kinder mit einem vierten Artisten in unterschiedlichsten Konstellationen durchexerzieren.

„So eine Showist wie der Kölner Dom:nie fertig“, sagt Bernhard Paul

Als Lili nach der Nummer zu ihrem Vater schlendert, hat der begonnen, in aller Ruhe Mandarinen zu schälen und Stückchen an die Crew zu verteilen. Seit sie 13 ist, verbiegt sie ihren Körper in Roncalli-Shows, sagt die 21-Jährige. Rhythmische Sportgymnastik hat sie schon als Kind gemacht, ihren Schulstoff schaffte sie trotz Rumgereise dank einer Privatlehrerin und Onlineunterrichts. Ihre ältere Schwester Vivian hat in der Vergangenheit schon laut darüber nachgedacht, sich zeitnah aus der Luftakrobatik zurückzuziehen, um eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Immerhin ist Roncalli ein Großbusiness; rund 400.000 Euro zahle er monatlich allein für Lohn, hat Bernhard Paul mal gesagt. Im Hintergrund klagt der Beatboxer Robert Wicke, noch schluffig in Jeans und Schlabbershirt gekleidet, über ein Mikrofon-Delay.

In der nächsten Nummer tritt ein weiterer Roncalli-Star auf. Der Clown Edouard „Eddy“ Neumann ist schon in seiner fünften Saison dabei. Als er 1991 aus Russland nach Deutschland kam, war er als Begründer der „KGB-Clowns“ schon eine Berühmtheit in seinem Metier. Ungeschminkt hat er ein rundes, freundliches Gesicht, in voller Clownspracht gleicht sein Ausdruck mit den spitzen Augenbrauen und süffisanten Mundwinkeln einem Rorschachtest für den Zuschauer: Je nach Sichtweise schaut er skeptisch, mitleidig, argwöhnisch, ein bisschen verzweifelt – oder heiter-anarchisch. Auch als Clown müsse er, trotz traditionell großer Schuhe und Schminke, ein bisschen mit der Zeit gehen. „Wenn man Zuschauern Anfang 20 eine Nummer des Clowns Grock zeigt, würden die vielleicht sagen: So ein Kindergarten“, sagt Neumann. „Obwohl er zu Lebzeiten ein Superstar war.“

Drei Shownummern vorher hatte Bernhard Paul, der Ex-„Zippo“, im Gespräch die gegenteilige Meinung vertreten. „Du kannst im Sinne von Mario Barth lachen – oder im Sinne von Charlie Chaplin“, sagt Paul und lässt dabei keinen Zweifel an seiner Präferenz. „Ein guter Gag bleibt gut.“ Was er noch sagt: „Zeitgeist ist ein schlechter Berater.“ Ein wichtiger Ideen­geber, mag man ergänzen, ist er offenbar trotzdem.

Roncalli Weihnachtscircus: noch bis 5. Januar, täglich (außer 31. Dezember), Tempodrom

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