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Endstation Alexander­platz

Giovanni Maramotti lebt seit rund vier Jahren auf der Straße, eine Krankenversicherung hat er nicht, einen Pass ebenfalls nicht. Maramotti hat immer wieder schwere depressive Phasen – doch als obdachloser EU-Bürger hat der Italiener kaum eine Chance, mehr als eine Notfallversorgung im Krankenhaus zu bekommen. Unser Autor hat ihn über ein Jahr lang begleitet und berichtet von einer frustrierenden Odyssee durch die Hilfssysteme

Von Christian Schramm und Christian Mang (Foto)

Im Sommer letzten Jahres besuchte ich fast täglich die Amerika-Gedenk-Bibliothek, ich hatte es als freier Journalist mit einer längeren Recherche zu tun und nutzte dafür die Bibliothek am Blücherplatz. Dabei fiel mir immer dieser wuchtige Mann auf: Obwohl seine heruntergekommene Kleidung und zwei prall gefüllte Plastiktüten ihn als Obdachlosen kennzeichneten, strahlte er eine große Würde aus.

Eines Tages traute ich mich, ihn auf einen Kaffee einzuladen. Er stimmte zu. Und so saßen wir immer häufiger bei einem Kaffee auf der Bank und redeten. Giovanni, so heißt er, hatte schon seit längerer Zeit seinen Lebensmittelpunkt in die Bibliothek verlegt – sie böte ihm Wärme, erzählte er mir, soziale Kontakte, eine kostenlose Toilette und Zugang zum Internet. Die Amerika-Gedenk-Bibliothek ist auch an Sonntagen geöffnet, und für einen Obdachlosen wie Giovanni ist dies gerade in der kalten Jahreszeit existenziell. Zudem fand er hier einen relativ sicheren Schlafplatz am Nachtschalter der Bibliothek. Giovanni war zuvor an anderen Plätzen mehrfach überfallen und geschlagen worden.

Mir bedeutete die aufkommende Freundschaft mit Giovanni bald sehr viel. Auch wenn es sich kitschig anhören mag: Ich verspürte eine tiefe Bewunderung für diesen zufrieden wirkenden Mann, trotzdem er beinahe alle Ängste auf seinen Schultern trug, die sich ein Mensch in Deutschland ausmalen kann: der Verlust des sicheren Heims, der Verlust aller finanziellen Mittel, eine ungewisse Zukunft und keinerlei Aussicht auf eine Rente. Manchmal stellte ich mir schmunzelnd vor, wie Giovanni als Experte in ausverkauften Hallen über Zukunftsangst und Gelassenheit spräche.

Irgendwann erzählte mir Giovanni seine Lebensgeschichte: Er stamme aus der kleinen Stadt Sassuolo im Norden Italiens. Die Gegend ist berühmt für ihre Keramikfliesen, er begann dort eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich und habe 13 Jahre im Vertrieb gearbeitet. Geschwister habe er keine. Seine Mutter, sagt er, habe unter einer bipolaren Erkrankung gelitten und mehrere Suizidversuche unternommen, die er miterlebte.

Giovanni sagt, er habe früh lernen müssen, selbstständig zu sein. Den Vater lernte er nie kennen. Als er elf Jahre alt gewesen sei, habe sich ein Onkel um ihn „gekümmert“, berichtet er mir – er habe ihn jahrelang sexuell missbraucht. Im Laufe der Jahre, seine Mutter war inzwischen gestorben, sei der Wunsch stärker geworden, Italien zu verlassen: wegen seiner Homosexualität sei er ausgegrenzt worden, die katholische Kirche sei einflussreich in seiner Heimatstadt.

Giovanni trifft eine weitreichende Entscheidung: Er kündigt seinen Job, löst seine Wohnung auf und reist mit seinem wenigen Ersparten im Jahr 2013 nach Berlin.

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