Gute Löhne sind Männerlöhne

Wat mutt? Dat mutt! (1) In unserer Serie zwischen den Jahren verraten AkteurInnen der Zivilgesellschaft, was 2020 wichtig wird. Heute: DGB-Chefin Annette Düring

Tarifflucht findet besonders oft im Einzelhandel statt – und dort arbeiten besonders viele Frauen Foto: Robert Schlesinger/dpa

VonAnnette Düring

Auch im kommenden Jahr bleiben gute Beschäftigungsverhältnisse und faire Löhne für alle ein zentrales, wichtiges Thema für das Land Bremen. Eine wichtige Stellschraube ist dabei die Tarifbindung. Sie ist in den letzten Jahren deutlich und in einigen Branchen erschreckend gesunken.

Hatten 2008 noch 67 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag, waren es 2017 nur noch 55 Prozent, die nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden. Bei den Unternehmen war der Rückgang noch deutlicher: 2008 waren 39 Prozent der Betriebe tarifgebunden, 2017 waren es nur noch 20 Prozent. Die Tarifbindung ist zwischen 2008 und 2017 in keinem anderen Bundesland so stark zurückgegangen wie in Bremen.

Die Bindung variiert stark nach Branchen und Betriebsgrößen. Während im verarbeitenden Gewerbe, das sehr von großen Betrieben geprägt ist, etwa 70 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag haben, sind es in der Logistik nur noch knapp 46 Prozent. Der stärkste Rückgang der Tarifbindung ist im Handel und im Reparaturgewerbe zu beobachten. Lag die Tarifbindung vor einigen Jahren noch bei 41 Prozent, haben heute nur noch 28 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag.

Gerade der Einzelhandel ist bereits heute stark von prekärer Arbeit geprägt. Setzt sich die Tarifflucht fort, droht der Einzelhandel vollständig zur Niedriglohnbranche zu werden. Für Bremen und Bremerhaven ist dies ein zentrales Problem. Und: Gerade im Einzelhandel arbeiten besonders häufig Frauen. Für sie ist durch die niedrigen Löhne die Altersarmut vorprogrammiert!

Durch die sinkende Tarifbindung verstärkt sich die soziale Spaltung am Arbeitsmarkt merklich. Während es Branchen gibt, die weiterhin durch eine hohe Tarifbindung geprägt sind, verbessern andere Beschäftigte ihre Arbeitsbedingungen nur selten durch Tarifverträge.

Zwar ist das Einkommen weiterhin die zentrale Messgröße beim Tarif. Doch auch andere Aspekte von Tarifverträgen sollte man nicht unterschätzen: Urlaubsansprüche, Arbeitszeiten, Aus- und Weiterbildungen, zusätzliche Familien- oder Pflegezeiten – Tarifverträge verbessern die Arbeitsverhältnisse der Menschen in vielen Bereichen. Auch hier öffnet sich die Schere zwischen den Beschäftigten durch die zurückgehende Tarifbindung weiter.

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Annette Düring, 59, ist Diplom-Pädagogin und seit 2009 DGB-Chefin der Region Bremen-Elbe-Weser.

Schon jetzt ist das Einkommensgefälle in Bremen überdurchschnittlich hoch: Die Einkommensentwicklung polarisiert zwischen einem steigenden Anteil von Menschen mit hohen Einkommen und einem stärker wachsenden Teil von Personen, die zu niedrigen Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen arbeiten. Dass diese Form des Niedriglohnsektors ein Sprungbrett in Gute Arbeit darstellt, ist längst widerlegt. Wer sich einmal in einem prekären Arbeitsverhältnis befindet, findet nur schwer zurück in gute, tarifgebundene Arbeit. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist diese Entwicklung fatal. Sie zementiert die soziale Schieflage im Land Bremen und nimmt den Betroffenen die Zukunftsperspektive.

Die soziale Spaltung des Arbeitsmarktes zeigt sich besonders stark zwischen Frauen und Männern: Gute Löhne sind in der Regel Männerlöhne. Die Branchen, in denen die Tarifbindung besonders stark abgenommen hat, sind überdurchschnittlich von Frauen geprägt: Der Einzelhandel und die Pflege sind zwei Branchen von vielen, in denen besonders häufig Frauen arbeiten.

Durch die anhaltende Tarifflucht werden vor allem sie in niedrige Löhne und prekäre Beschäftigungsformen gedrängt. Die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ist ein erklärtes, gutes Ziel – in Bremen und im Bund. Um dies zu erreichen, sind flächendeckende Tarifverträge daher von besonderer Bedeutung.

Ebenso fatal ist die Tarifflucht für die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung Bremens. Dem Land entgehen jährlich etwa 126 Millionen Euro an Steuereinnahmen und 201 Millionen Euro für die Sozialversicherungen. Gleichzeitig bleibt die Haushaltslage weiter angespannt. Dringend notwendige öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, in den sozial-ökologischen Umbau, in den öffentlichen Wohnungsbau und die Daseinsfürsorge drohen auszubleiben. Eine höhere Tarifbindung hilft daher den Beschäftigten und verbessert die Finanzlage Bremens deutlich.

Dasselbe gilt für die Konjunktur in Bremen und Bremerhaven. Die andauernde Tarifflucht schwächt die Kaufkraft. Mit einer flächendeckenden Tarifbindung hätten die BremerInnen etwa 280 Millionen Euro jährlich mehr im Portemonnaie. In Zeiten einer schwächelnden Konjunktur ist eine sinkende Tarifbindung daher auch für die bremische Wirtschaft nicht zu rechtfertigen.

Die Gewerkschaften begrüßen daher die Initiative des Senats, der die Tarifbindung im Land Bremen und bundesweit stärken will. Hierzu gibt es verschiedene Instrumente, die im nächsten Jahr dringend angeschoben und umgesetzt werden müssen. Dazu gehört die Bedingung, dass öffentliche Aufträge und Fördergelder nur an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden. Der Staat sollte seine Gelder nur dorthin geben, wo gute Arbeit durch einen Tarifvertrag ermöglicht wird. Er schafft so Anreize für Unternehmen, die Tarifflucht einzustellen.

Weiterhin muss das Instrument der Allgemeinverbindlich­keitserklärung (AVE) von Tarifverträgen so reformiert werden, dass Tarifverträge einfacher und schneller für ganze Branchen gelten. Bessere Regelungen zur Nachbindung und Nachwirkung von Tarifverträgen stellen ebenfalls einen Hebel dar, mit dem die Tarifbindung wirksam verbessert werden kann.

Darüber hinaus muss Schluss sein mit der Möglichkeit, dass Arbeitgeber einem Verband beitreten, ohne am Tarifvertrag teilzunehmen. Die Auswahl von Vorteilen und Pflichten für Unternehmen untergräbt den sozialen Zusammenhalt. Die Unternehmen müssen sich angesichts der sinkenden Tarifbindung daher die unbequeme Frage nach ihrer sozialen Verantwortung gefallen lassen.