taz-adventskalender
: Bionade-Biedermeier

Henning Sußebach, Die Zeit 46/2007, www.zeit.de/2007/46/D18-PrenzlauerBerg-46

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Das Jahr 2007 war eine Zeit, in der ich nicht viel mitbekam von meiner Stadt, meinem Kiez. Ich hatte diffus erfühlt, dass sich der Stadtteil Prenzlauer Berg in den 13 Jahren seit meiner Ankunft gehörig verändert hatte. Konsequenzen hatte ich allerdings noch keine gezogen. Das tat ich erst, als der viel gelesene Artikel des Reporters Henning Sußebach in der Zeit erschien. Er hieß „Bionade-Biedermeier“, ich fand ihn zuerst empörend und dann so brillant wie wahr – bis heute.

Um Prenzlauer Berg zu erklären, steigt Sußebach mit einem kurdischen Türken ein, der in der Schönhauser Allee Gemüse verkauft und die Welt nicht mehr versteht, weil die Leute seine Möhren und seine Zwiebeln verschmähen. Die Bewohner von Prenzlauer Berg wollen keine Lebensmittel kaufen, sondern ein Lebensgefühl. Es geht also um die „Ökoschwaben“, „Pornobrillenträger“ und „Frühstücksmenschen“, all die jungen westdeutschen Wohlstandskinder, die seit dem Mauerfall bekanntlich mindestens 80 Prozent der alten Bewohner des Quartiers verdrängt haben.

Sußebach beschreibt Menschen, die sich in ihren Dachgeschosswohnungen für horrende Summen Kamine einbauen und im selben Atemzug bei LPG ökologische Katzenkroketten kaufen und eine Roma-Band zu verscheuchen versuchen, die allzu laut musizierend um die Häuser zieht. Menschen sind das, die ihre Kinder dazu verdonnern, dass „der Thomas“ ihnen Yoga beibringt und so angestrengt in sich hineinhorchen, dass die Psychotherapeuten weit und breit ausgebucht sind. Prenzlauer Berg, so die Conclusio von Sußebach, leide nicht nur an seiner sozialen Homogenität, er leide auch unter einer Art „unkonventioneller Bürgerlichkeit“. Man könnte auch sagen, er leidet an seiner Verlogenheit.

Dem ist bis heute wenig hinzuzufügen, höchstens das, was acht Jahre später Anke Stelling in ihrem Buch „Bodentiefe Fenster“ versucht hat.

2007 begann ich mich langsam, aber sicher von Prenzlauer Berg zu verabschieden – und einer der daran Schuldigen ist Sußebach. Ich dachte immer wieder an seinen Text, wenn mir Mütter auf dem Spielplatz erklärten, Familie sei eine Frage der Organisation, es gelte nur, die richtige Nanny zu finden – oder ich könne die Erzieher im Kindergarten ruhig wie meine Angestellten behandeln, in anderen Ländern, wo Kindergärten Geld kosten, sei das gang und gäbe. Inzwischen wohne ich weit draußen, hinter der Stadtgrenze und vermisse meine alte Heimat nur noch, wenn ich mal ökologische Katzenkroketten brauche. Susanne Messmer

Berlin-Faktor: bodentief

Taugt als Weihnachtsgeschenk für:

die, die schon alles haben

Kunden, die das kauften, kauften auch:

Zwiebeln