: Aus Armut selbst verbrannt
Ein Student aus Lyon rüttelt mit seiner Verzweiflungstat Frankreich wach. Die Studis wollen streiken
Von Rudolf Balmer, Paris
Vor dem 8. November war es nur eine abstrakte Zahl: Jeder fünfte Student lebt in Frankreich unterhalb der Armutsgrenze. Doch seit der Verzweiflungstat des 22-jährigen Studenten in Lyon ist das Land aufgewacht. An jenem grauen Novembertag vor zwei Wochen hat sich Anas K. vor dem Gebäude der Studentenhilfe Crous mit Benzin übergossen und angezündet. Dass er trotz schwerster Verbrennungen nicht gestorben ist, grenzt an ein Wunder.
Mehr als eine Woche danach sind seine KommilitonInnen und DozentInnen schockiert. Wie soll man einfach zum Studienalltag zurückkehren? Kurz war die geisteswissenschaftliche Fakultät Lyon-II, wo Anas K. immatrikuliert ist, besetzt. Auch in zahlreichen anderen Universitätsstädten fanden Solidaritätskundgebungen statt. Die Selbstverbrennung hat die französischen Studierenden zutiefst aufgewühlt.
In einem Abschiedsbrief hat der gewerkschaftlich engagierte Student ausgeführt, was er mit seiner Selbstverbrennung bezweckte. Er erwähnt darin, dass er kein Stipendium mehr erhielt, weil er ein Studienjahr auf dem Weg zum Licence (diesen Abschluss erhält man in Frankreich nach drei Studienjahren) zum zweiten Mal wiederholen musste. Die 450 Euro, die er zuvor erhielt, reichten ihm sowieso kaum zum Leben. „Sollen wir so überleben?“, fragt er in dem Abschiedsbrief. Für seine Tat macht er „Macron, Hollande, Sarkozy und die EU“ verantwortlich. Sie hätten ihn „getötet“. Zum Schluss seines Schreibens fordert Anas K. seine Kommilitonen auf, den Kampf fortzusetzen.
In ersten Stellungnahmen bestanden Regierungsmitglieder darauf, diese bedauernswerte Tat nicht als „politische Aktion“ zu werten. Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye verwahrte sich gegen jegliche „Instrumentalisierung“. Und der Staatssekretär für Jugendfragen, Gabriel Attal, betete der Delegation der Studentengewerkschaften sogar noch vor, was seine Regierung angeblich schon alles zur Verbesserung des Studentendaseins getan habe. Tatsächlich gleicht die Erhöhung der Stipendien um 1,1 Prozent nicht einmal die Inflation aus.
Wie schlimm die Lebensrealität vieler Studierenden ist, weiß auch die Präsidentin der Universität Lyon-II, Nathalie Dompnier: „Es gibt Studenten, die im Freien übernachten müssen.“ Viele könnten nicht zu den Vorlesungen kommen, weil sie arbeiten müssten. „Wir haben sogar Studierende, die hungern,“ so Dompnier.
Dass Lyon nicht etwa ein Einzelfall ist, bestätigt Yasmina Issaad. 25 Jahre lang hat die Psychologin des Präventivmedizinischen Dienstes der Universität Paris-Nanterre Studierende mit zum Teil gravierenden Problemen empfangen: „In meinen Konsultationen hatte ich Studierende, die in sehr prekären Verhältnissen waren, von denen einige in einem Auto oder auf einer Parkbank übernachteten oder ständig wechselnd bei Bekannten.“ Was Issaad aber besonders auffiel, war die Tatsache, dass sich diese soziale Dimension der Schwierigkeiten in den letzten Jahren eindeutig verschlechtert hat.
Dafür spricht auch die Statistik: Zu Beginn der Nullerjahre mussten 37 Prozent der Studierenden neben der Uni arbeiten, 15 Prozent sogar in Vollzeit. Heute sind die Zahlen auf 50 bzw. 34,3 Prozent angestiegen. Dagegen erhalten nur 26 Prozent der Studierenden ein Stipendium, das sich jährlich auf 1.020 bis 5.612 Euro beläuft. Das reicht nicht zum Leben. Dazu kommen die steigenden Nebenkosten. Laut der Studentengewerkschaft Fage stiegen die Preise in Mensa oder Cafeteria an den Unis beispielsweise um rund 8 Prozent.
Besonders ins Gewicht fallen wie in Deutschland die Wohnkosten, die im Durchschnitt 50 Prozent der Mittel verschlingen. In den vom Crous verwalteten Studentenheimen mit subventionierten Mieten gibt es in ganz Frankreich nur rund 150.000 Plätze bei 2,7 Millionen Studierenden. Wer also nicht bei den Eltern lebt, muss die rasant steigenden Mieten zahlen. Die Studentengewerkschaft Unef kommt in einem Bericht zu dem Schluss, dass die Unterhaltskosten der Studenten seit 2009 stetig steigen, 2018 allein um 2,83 Prozent.
Anas K. erwähnt in seinem auf Facebook publizierten Brief die Forderung eines existenzsichernden Grundlohns für alle. Für den 5. Dezember haben einige Studentenvertretungen angekündigt, sich einem Streik der Staatsangestellten der Bahn und Metro-Betriebe anzuschließen.
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