: Zur Zeit der schiefen Perle
Bruno Preisendörfer beschreibt in seinem Buch „Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit“ gekonnt und unterhaltsam die Gepflogenheiten der Barockzeit. Manchmal kann man nachempfinden, wie es gewesen wäre, damals gelebt zu haben
Von Katharina Granzin
Geschichte lässt sich auf verschiedene Art erzählen. Über die Beschreibung von Schlachten, Verträgen, Königshochzeiten und anderen Dingen. Durch die Exegese von Schriften, welche die Fortschritte der Menschheit in Wissenschaft und Geistesbildung belegen. Oder über die Rekonstruktion des Alltagslebens anhand überlieferter Zeugnisse über Speisegewohnheiten, Mode und Hygiene. Der Autor Bruno Preisendörfer hat sich einen Namen gemacht mit Büchern über das Dasein im Deutschland der vergangenen Jahrhunderte, die alle genannten Aspekte elegant verbinden.
In seinem neuesten Opus beschreibt Preisendörfer das Leben in jener Zeit, die allgemein als „Barock“ bezeichnet wird, was im ursprünglichen Wortsinn „schiefe Perle“ bedeutet. Im Untertitel des Buches allerdings verspricht der Autor eine „Reise in die Bachzeit“, den Barockbegriff vermeidend. Stattdessen setzt er einen konkreten biografischen Anker. Die Musik Johann Sebastian Bachs dürfte für viele heutige Menschen so ziemlich das prägendste Ausstattungselement des Barock sein, neben etwas unklaren Bildern von gepuderten Perücken, symmetrisch angelegten Heckengärten und der üppigen, puttenreichen Ausgestaltung von (katholischen) Kirchen. Gemeinsame Epochenmerkmale aus diesen unterschiedlichen Phänomenen zu extrahieren, ist schwierig. Preisendörfers Methode, in seinen historischen Sachbüchern jeweils einen Kulturpromi (Goethe, Luther, Bach) als impliziten Zeitzeugen heranzuziehen, bietet eine pragmatische Beschreibungsalternative zum Epochenbegriff. Nach Themen gegliederte Kapitel legen dabei konzentrische Kreise um den gewählten Fixpunkt. „Als die Musik in Deutschland spielte“ ist kein Buch über Bach, sondern eines über die Welt, in derBach (von 1685 bis 1750) lebte.
Dass der Meister gern Kaffee trank, erfahren wir aber auch. Als Bach starb, fanden sich in seinem Nachlass jedenfalls mehrere Kaffeekannen. Mit der „Kaffeekantate“ hat der Thomaskantor der Nachwelt sogar eine Komposition hinterlassen, die Zeugnis von der Kaffeemanie der damaligen, die neuen Segnungen des Kolonialismus genießenden Welt ablegt. Nicht nur Kaffee kam aus den fernen Ländern nach Europa, sondern auch Menschen, meist als Diener/Sklaven adliger Herrschaften.
Preisendörfer erzählt von dem afrikanischstämmigen Juristen Antonius Wilhelmus Amo, der in Deutschland studierte, aber nach Afrika zurückkehrte, nachdem es ihm nicht gelungen war, eine Frau zu finden. Eine „Mischehe“ schien den deutschen Zeitgenossen undenkbar. Was es aber schon gab, waren Finanzspekulationen, wie die „Südseeblase“ von 1720, die in globalem Maßstab schiefging und zum finanziellen Ruin vieler Anleger führte. Außerdem wurde in Bachs Lebenszeit das Porzellan erfunden, der Sinn der Folter als Mittel zur Rechtsprechung in Frage gestellt, die Universität in Göttingen gegründet und erschien das erste von einer Frau geschriebene Kochbuch.
Wenn man im Alter allmählich blind wurde, ließ man sich den grauen Star „stechen“ (die grausame und ohne Betäubung erfolgende Prozedur, der sowohl Bach als auch Händel sich erfolglos unterzogen, wird eingehend beschrieben). Die Damen trugen Kleider mit Korsagen aus Walkieferknochen und mit Reifröcken, die so raumgreifend waren, dass, wie einer spottete, „wenn ein paar Weiber […] einander in einer engen Gasse begegnen, so macht es ihnen so viel Verwirrung, als wenn zwey Wagen mit Heu gegeneinander führen“. Auf dem Kopf trug man Perücke, und beim Perückenvergleich zwischen Bach, Händel und Telemann hatte Händel die längste.
Schminkpflästerchen für beide Geschlechter
Bruno Preisendörfer: „Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit“. Galiani Verlag, Berlin 2019, 480 S., 25 Euro
Preisendörfer macht keinen Unterschied zwischen dem Erhabenen und dem Trivialen. Zur Lebenswelt von Bach und ZeitgenossInnen gehörte das Schminkpflästerchen für beide Geschlechter genauso wie die Bibellektüre und wie die Tatsache, dass es noch keine eigenständige Musikkultur gab. Musik wurde entweder zu Ehren Gottes oder zu Ehren irgendeines weltlichen Fürsten komponiert und gegeben. In seiner Stellung am Hof von Weimar wurde der junge Johann Sebastian Bach gar als „Laquey“ (Lakai) geführt. Und später als Thomaskantor hatte er so viele Pflichten, dass das Komponieren ohne Kaffee wohl gar nicht mehr gegangen wäre (der gleichaltrige Händel hatte es da in London weit besser getroffen).
Zu den vielen Vorzügen von Preisendörfers Schreibweise gehört es, sich selbst nicht außen vor zu lassen. Als von Bachs „Chaconne“ einst tief Berührter führt der Autor sich zu Beginn selbst in den Text ein. Keine künstliche Objektivität liegt über seinen Betrachtungen, sondern eine seinem Gegenstand freundlich zugewandte Heiterkeit, die dort zu nachsichtiger Ironie wird, wo der Schreibende sich zu Recht als besser informierter Nachgeborener fühlt. Diese transparente Subjektivität trägt sehr dazu bei, dass es zwischendurch immer wieder für Momente möglich wird, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und annäherungsweise ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es – vielleicht – gewesen wäre, damals gelebt zu haben.
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