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Die Regelschule des Lebens

Der erste Schultag soll für Kinder was ganz Besonderes sein. Aufregend ist der Start in die Selbstständigkeit allemal. Wenn das Kinddann noch mit einer diagnostizierten Behinderung ins Schulleben startet, müssen die Eltern einige bürokratische Hürden überwinden

Inklusive Schulen sind auf freiwillige Hilfen angewiesen: Hier an der Fläming-Grundschule in Berlin Foto: Ulli Winkler/imago

Von Jasmin Lütz

Alle Schüler haben die gleiche Chance und das Recht auf Bildung – so steht es im Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung werden in Förderschulen unterrichtet und erhalten dort eine individuelle Betreuung. Das ist gut, trägt aber nicht zur Integration in die Gesellschaft bei: Kinder mit Handicap bleiben unter sich und dies führt oft zu Ausgrenzung.

Laut UN-Behindertenrechtskonvention sollen Regelschulen Kinder mit und ohne Behinderung deshalb gemeinsam unterrichten. Dabei sind auch schon Fortschritte zu erkennen, aber leider stimmen die Rahmenbedingungen nicht. Bund und Länder würden Kindern mit Behinderung den Schulanfang erschweren, kritisieren Bildungs- und Sozialeinrichtungen. So fordert auch die Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine geregelte Strategie und mehr Einsatz der Regierung bei der Umsetzung der Inklusion: „Es gibt keinen Grund zum Jubeln. Politik muss mehr Geld in die Hand nehmen sowie Konzepte und Strukturen entwickeln, damit Inklusion erfolgreich sein kann“, so lautet die Ansage von GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann.

Trotz Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung müssen sich betroffene Eltern immer noch nervenaufreibend mit den Schulbehörden und Kultusministerien auseinandersetzen. 2009 hatte sich Deutschland bereits dazu verpflichtet, Kindern mit und ohne Behinderung einen gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen.

Die Behindertenrechtskonvention besagt: „Gleichberechtigung für alle“. Doch in den vergangenen Jahren ist laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung die Anzahl der Kinder, die separat auf Förderschulen gehen, nur leicht gesunken: von 4,9 Prozent (2008) auf 4,3 Prozent (2017). Aber wie sieht es im wahren Leben aus?

Gemeinsames Lernen

Auf Bundesebene funktioniert das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung sehr unterschiedlich. Ein Punkt dabei ist die Ausstattung der Schulen: Oft sind die Klassenzimmer zu klein und die Gebäude nicht barrierefrei. Der Mangel an pädagogischem Fachpersonal ist ebenfalls ein Problem. Die Lehrer sind teilweise nicht ausreichend ausgebildet, um mit förderbedürftigen Kindern fachgerecht umzugehen.

In Bremen etwa gehen laut Bildungsforscher Klaus Klemm trotz aller Probleme nur noch 1,2 Prozent der betreffenden Schüler auf Förderschulen. In anderen Bundesländern besuchen dagegen – so Klemm – wieder mehr Kinder die Förderschulen, weil die Bedingungen (Fachpersonal, Gebärdensprecher, Räumlichkeiten etc.) nicht stimmen oder die Schulbehörden Anträge von Kindern mit Behinderungen ablehnen.

Eltern müssen sich generell vor Schulbeginn gut überlegen, auf welche Schule sie ihr Kind schicken wollen. Immer mehr Eltern mit förderbedürftigen Kindern entscheiden sich für einen Platz an der Regelschule. Laut einer Umfrage von Aktion Mensch liegt die Befürwortung von Eltern zur Inklusion an Schulen bei 76 Prozent.

Es gibt Regelschulen in Deutschland, wo der gemeinsame Unterricht funktioniert. Dennoch sind Statistiken nicht immer aussagekräftig und die Zahlen variieren von Stadt zu Stadt. Ob ein Kind Förderbedarf benötigt, wird von Land zu Land unterschiedlich entschieden und somit taucht es in der Statistik auf oder nicht. Demnach erweist sich Inklusion für viele Eltern auch als schwerer Hürdenlauf und endet oft mit Verzweiflung. Es fehlt ein geregeltes Bund-Länder-Programm. Eltern müssen sich an verschiedenen Stellen und Quellen selber informieren, regelmäßig die Aktionspläne der Landesregierung verfolgen, zahlreiche Beratungstermine wahrnehmen. Ein enormer bürokratischer Aufwand, der nicht nur sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, sondern auch alle Beteiligten sehr viele Nerven kostet.

Bezirksamt, Jugendamt, Gemeinde des Landkreises. Ja, wer ist denn hier eigentlich zuständig? Gleiche Chancen für alle. Das klingt dann doch eher nach einem sozialgerechten Werbeslogan für die nächste Kommunalwahl.

GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann hebt in diesem Zusammenhang auch aktuelle Geschehnisse in Deutschland hervor: „Gerade in Zeiten, in denen Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten zunehmen und der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch ist, wird gute Inklusion in den Bildungseinrichtungen wichtiger denn je.“

Dolmetscher gesucht

Funktioniert denn Inklusion auch in der Praxis? Nicht immer. Viele Kinder mit Behinderung kämpfen an Regelschulen um Aufmerksamkeit und Integration. Gehörlose Kinder benötigen einen Dolmetscher am besten auf freiwilliger Basis – also ehrenamtlich – und der begleitet die Schülerin oder den Schüler den ganzen Tag. Das wiederum führt zu Unsicherheiten bei den Mitschülern: „Ich finde das etwas nervig, wenn immer ein Erwachsener neben dir herlaufen muss und wenn du Geheimnisse mit Freunden bereden willst und die das einfach so übersetzen müssen – da gibt es gar keine Privatsphäre mehr.“ (Quelle: Deutschlandfunk Kultur)

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geht es mit der Inklusion in Deutschland auch nur langsam voran. Italien ist nach wie vor Spitzenreiter, denn hier verpflichtete man sich bereits seit den 1970er Jahren zur schulischen Gleichberechtigung.

Unterstützung wird also an allen Fronten gebraucht. Das Vorstandsmitglied im Bereich Bildung und Integration der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, wendet sich mit den regionalen Unterschieden der Inklusion an den nationalen Bildungsrat. Jedes Bundesland muss in der Lage sein, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. Es geht um ein soziales Miteinander, egal welche Stärken und Schwächen sie vorweisen. Die Unterrichtsqualität muss einheitlich sein und demnach benötigen alle Lehrkräfte Fortbildungen und sonderpädagogisches Fachwissen.

Deutschland indes muss dafür sorgen, dass der gemeinsame Unterricht auf Bundesebene einheitlich organisiert wird und stabil bleibt. Auch der Sozialverband VdK fordert eine verbindliche Strategie für inklusive Bildung auf ganzer Bundesebene. Die Eltern können ­letztendlich selber entscheiden, was ihrem Kind gut tut. Letztendlich wollen alle am Anfang des Schuljahres ihr Kind ­glücklich mit anderen Kindern zusammen an einer Schule sehen.

Weiterführende Links:

www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/september/mehr-inklusion-von-schuelern-mit-lernhandicaps/

www.behinderung.org/sonder-oder-integrationsschule.htm