: „Das Erzähluniversum ist komplexer und verästelter“
Die Kieler Universität richtet noch bis Februar eine Ringvorlesung zu „Serien in Fernsehen und Internet“ aus. Organisator Willem Strank über Binge-Watching und „The Wire“
Interview Wilfried Hippen
taz: Herr Strank, Fernsehserien galten lange als die trivialen, billigeren Verwandten des Spielfilms. Seit wann trauen wir ihnen mehr Innovation zu als dem Kino?
Willem Strank: Ein genauer Zeitpunkt ist schwer zu nennen, es gab ja schon fast seit Beginn der Fernsehgeschichte innovative Formate. In den USA wird die Geburtsstunde des neuen Qualitätsdramas häufig bereits 1981 angesetzt: mit „Hill Street Blues“.
Zu Deutsch: „Polizeirevier Hill Street“.
Nach Deutschland schwappte die Welle frühestens um die Jahrtausendwende mit der Hinwendung von HBO zu Qualitätsformaten. Auch wenn es vorher unter Fernsehfreunden schon erste „Wellen“‘gab, zum Beispiel „Twin Peaks.
Was sind die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem seriellen Erzählen und der in Spielfilmen üblichen Dramaturgie?
Das Ziel und die Zeit. Spielfilme müssen binnen 90 bis 120 Minuten zu einem wie auch immer gearteten Ende finden. Serien haben viel mehr Raum zum Entfalten von Nebenhandlungen und -figuren. Sie haben mehr Zeit für lange Gespräche, sie können in Einzelfolgen der erzählerischen und ästhetischen Norm der übrigen Serie stark widersprechen, und durch all das wird ihr Erzähluniversum ungleich komplexer und verästelter. Sie haben außerdem zunächst kein festes Ziel, sondern häufig nur ein „bleiben Sie dran“ im Sinne eines Cliffhangers oder einer vorläufigen Conclusio am Staffelende.
Verändert hat sich auch, wie Serien vermarktet werden. Digital Natives, also mit dem Internet aufgewachsene Zuschauer, haben zum großen Teil ja gar kein TV-Gerät mehr.
Die Vermarktung solcher Serien zielte zur Hochzeit der DVD auf eine Kanonisierung, die das Serien-DVD-Regal optisch in die Nähe des bürgerlichen Bücherregals rückte. Diese Praxis ist in Zeiten des Streamings schon wieder überholt: Fernsehsender sind ja selbst mittlerweile Zwitter aus Live-Angebot und Mediatheken. Dezidierte Plattformen wie Netflix produzieren außerdem sehr viele Formate selbst, sodass sie auf Feedback-Zyklen angewiesen sind: Serien, die gut ankommen, resultieren in ähnlichen Serien oder Spin-offs, verwandte Formate werden gemeinsam vermarktet,
Worum geht es in Ihrer derzeitigen Ringvorlesung?
Es werden Dozierende aus Kiel und von Universitäten aus der Nähe – Hamburg und Flensburg – Vorträge über Fernseh- und Internetserien seit 1999 halten; aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven.
Also seit den „Sopranos“.
Dabei stehen erfolgreiche und/oder diskursprägende Serien im Fokus, um ein in dem beschränkten Rahmen möglichst repräsentatives und abwechslungsreiches Bild der Serienlandschaft der vergangenen 20 Jahre zu geben.
Als Musiker begleiten Sie selbst auch Stummfilme am Piano. Bei Ihnen geht also der Bogen von den Anfängen der Filmgeschichte bis zu den neusten Entwicklungen. Hat das traditionelle Kino, in dem Zuschauer und Zuschauerinnen sich versammeln,um gemeinsam einen Film zu sehen, eine Zukunft?
Ja, davon bin ich überzeugt. Das gemeinsame Erlebnis Film ist nicht durch Second-Screen-Konversationen zu ersetzen. Solange Menschen das Bedürfnis haben, gemeinsam Sportevents anzuschauen, werden auch einige von ihnen gemeinsam Filme schauen – es geht meines Erachtens um das gemeinsame Erleben, das immer eine Alternative und eine Ergänzung zum Alleinschauen darstellen wird.
Können Sie kurz schildern, wie Sie als Akademiker, aber auch als Musiker zum Kino gekommen sind?
Als Akademiker hat es sich fast zufällig aus meinem Studium ergeben. Film war mir als junger Mann nicht fremd, aber auch nicht meine liebste Kunst – das war und blieb immer der Musik vorbehalten. Der Kontakt mit zahllosen neuen Epochen und Kulturen des Films hat mich allerdings nachhaltig fasziniert. Die Begleitung von Stummfilmen hat sich auch eher aus einem Zufall ergeben: Aufgrund persönlicher Umstände wurde die Zeit für Ensemble- und Bandproben immer knapper, sodass ich eine Solo-Variante gesucht habe, bei der ich viele Freiheiten habe, aber dennoch nicht so ganz allein im Mittelpunkt stehe. Stummfilmmusik war dafür aus vielerlei Gründen ideal und hat sich schnell zu einer echten Passion entwickelt.
Wie hat sich in den letzten Jahren Ihr eigenes Sehverhalten verändert?
Willem Strankist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Er ist auch Musiker und begleitet am Piano Stummfilme – zum Beispiel am nächsten Sonntag im Kino in der Pumpe in Kiel (siehe „Shortcuts“ rechts).
Ich glaube, dass das sogenannte Binge-Watching – schon auf DVD, nicht erst mit Streaming – auch mein Verhalten gegenüber Serien stark verändert hat.
Also nicht mehr nur eine Folge pro Woche, sondern mehrere am Stück.
Generell verschwimmen Episodengrenzen – und sogar Filmgrenzen – stärker als zuvor, man schaut manchmal kleinere oder auch größere Häppchen, je nachdem, wie es in die eigene Zeit passt. Konkreter hat sich bei mir inhaltlich einiges verändert. Zu HBO-Hochzeiten habe ich fast jede neue, hochgelobte Serie geschaut, die herauskam. Mit den meisten Netflix-Serien begann für mich persönlich eine Welle der Enttäuschungen und ich kann keine aktuellere Serie benennen, die besser wäre als ihre Pendants aus der Zeit davor.
Welche halten Sie für besonders gelungen und stilprägend?
Allen voran „The Wire“. Generell haben David Simons Serien ein Muster etabliert, das großen Einfluss auf viele der neueren Kreuzungen tradierter Genres mit Milieustudien hatte; „The Killing“/„Kommissarin Lund“ etwa. Außerdem haben sie gezeigt, wie ernsthaft die Anliegen von Serien sein können: Nirgendwo ist der oft bemühte Vergleich zu Romanen zutreffender als dort.
Und welche neuere Produktion halten Sie für interessant?
Ich glaube, dass „Stranger Things“ noch einen großen Nachhall finden wird, denn Nostalgie wird auch auf absehbare Zeit eine wahnsinnig effektive Produktverpackung abgeben.
Ringvorlesung „Serien in Fernsehen und Internet“:
bis 4. 2. 2020 jeweils dienstags, 18.15 Uhr (nicht am 24. und 31. 12.!), Kiel, Olshausenstraße 75, Hans-Heinrich-Driftmann-Hörsaal
Programm: www.uni-kiel.de/de/veranstaltungen/ringvorlesungen/ws1920-rv-serien
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen