: Endlich verständlich
An der Uni Lichtenberg halten ProfessorInnen kindgerechte Vorträge. Dieses Wochenende gibt es erneut Vorlesungen
Von Marina Mai
Die siebenjährige Tonia sitzt neben ihrem Vater im größten Hörsaal der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Lichtenberg. Tonia ist hier, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine Vorlesung zu hören und ihr Vater begleitet sie nur.
„Warum haben manche auf der Welt viel und andere nichts? Reichtum, Armut und Gerechtigkeit“ lautet der Titel der Vorlesung, die Vater und Tochter ausgesucht haben, „weil ich mich für Gerechtigkeit interessiere“, so Tonia. Es ist eine von vielen kindgerechten Vorlesungen, die an den Novemberwochenenden an der Kinderuni Lichtenberg zu sehen und hören sind.
Von den 170 Plätzen im Hörsaal sind etwa 140 mit Kindern besetzt. Die meisten Eltern wurden in den Nachbarraum geschickt, wohin die Vorlesung per Video übertragen wird. Den Titel der Vorlesung hätte der Politikwissenschaftler Jens Wurtzbacher anders genannt, würde er vor Studierenden sprechen, wie er der taz sagt – etwa „Ursachen globaler Ungleichheiten“. Und auch didaktisch hätte er vieles anders gemacht, so der Professor. „Kinder sind sehr direkt. Sie fragen einfach drauflos“, findet Wurtzbacher. Deshalb lässt er zu jedem Zeitpunkt der Vorlesung Fragen der Kinder zu.
Alle Arme gehen nach oben
Als er von Kinderarbeit auf ghanaischen Kakaoplantagen und der Zusammensetzung der Schokoladepreise spricht, fragt er zuerst die jungen Hörer: „Wer von euch hat schon einmal Schokolade gegessen?“ Erwartungsgemäß gehen alle Arme nach oben. Wenig später bittet er diejenigen Kinder aufzustehen, die bereit wären, 6 Cent mehr für eine Schokolade zu zahlen, wenn diese den Kakaobauern zugute kämen. An der Tafel im Hörsaal ist gerade ein Foto eines Jungen zu sehen, der einen Sack Kakao schleppt.
Echte Professoren sprechen in echten Hörsälen vor Kindern – das ist die Idee, die hinter Kinderunis steht, von denen es in Deutschland mehrere gibt. Als die Kinderuni Lichtenberg 2003 als erste in Berlin startete, kamen gerade einmal sieben Kinder zur Vorlesung.
Heute kann sich die Kinderuni, die auch von anderen Berliner Hochschulen inzwischen veranstaltet wird, über fehlendes Interesse nicht beklagen. Das Lichtenberger Original findet seit Beginn immer an Freitagen und Samstagen im November statt. Die Professoren erhalten kein Honorar für die ungewöhnlichen Vorlesungen. Die Kinderuni zählt auf finanzielle Unterstützung der Stiftung Stadtkultur. Die drei beteiligten Lichtenberger Hochschulen – neben der Hochschule für Technik und Wirtschaft sind das die Katholische Hochschule für Sozialwesen und die Hochschule für Wirtschaft und Recht – stellen Räume und Technik kostenlos zur Verfügung.
Kostenlose Vorlesungen
Das Bezirksamt Lichtenberg hilft bei der Öffentlichkeitsarbeit und lässt an Schulen und Bibliotheken Flyer mit dem Vorlesungsverzeichnis verteilen. Der Vorlesungsbesuch ist kostenlos. Die Kinder erhalten einen Studierendenausweis, auf dem sie sich für jede besuchte Vorlesung einen Stempel geben lassen können.
Jens Wurtzbacher liest zum zweiten Mal vor der Kinderuni. „Letztes Jahr habe ich zum Thema Obdachlosigkeit in Berlin gesprochen“, erinnert er sich. Die Fragen der Kinder seien für ihn sehr persönlich gewesen, sagt Wurtzbacher. „Ich habe darauf für meine Tätigkeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen die Erfahrung mitgenommen, in Vorlesungen persönlicher zu werden. Ich denke, dass das meine Studenten auch honorieren und es gibt mir ein besseres Gefühl.“
Der 10-jährige Levi, der am S-Bahnhof Lichtenberg öfter Obdachlose sieht, erinnert sich noch genau an die Vorlesung vom Vorjahr. Heute sei Levi wieder in die Kinderuni gekommen, „weil ich etwas Neues lernen will und weil mich das mit der Gerechtigkeit ziemlich interessiert“. Es ist bereits seine zweite Vorlesung in diesem Jahr. Stolz zeigt Levi die Stempel auf seinem Studierendenausweis. Levis Mutter begleitet ihn und die jüngere Schwester. „Ich finde gut, wenn schon Kinder Hörsaalluft schnuppern können. Sie können dann überlegen, ob das Unileben etwas für sie ist.“
15. 11., 16.30 Uhr: Süß, lecker – und gefährlich? Wie Zucker dem Menschen hilft und ihm schadet.
16. 11., 10.30 Uhr: Ist mein Smartphone intelligent? Wie Computerprogramme lernen.
16. 11. ,10.30 Uhr: Das kann ja heiter werden! Wenn Väter Kinder erziehen.
22. 11., 16.30 Uhr: Mobbing in der Schule? Nein danke! Was man wissen muss und wie man sich wehren kann.
23. 11., 10.30 Uhr: Mal Spaß, mal Bedrohung – Darf die Polizei Drohnen abschießen?
Die Vorlesungen finden immer an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, Treskowallee 8, 10318 Berlin statt.
Für Kinder zwischen 8–12 Jahren, jüngere Kinder sind willkommen. (mai)
Polizei und Weltraum
Etwa die Hälfte der jungen Besucher der Kinderuni kommen aus dem Bezirk Lichtenberg, so die Erfahrung von Kristine Kretschmer von der Kinderuni. Manchmal nutzen Lichtenberger Grundschulen das Angebot für Projekttage. Die andere Hälfte kommt aus ganz Berlin und sogar aus Brandenburg. So etwa die 11-jährige Anette aus Potsdam. „Ich interessiere mich für Hilfsbereitschaft und finde es nicht gut, dass reiche Leute so viel Essen wegwerfen und arme Leute dann nichts zu essen haben“, sagt sie der taz.
Die Themen der Vorlesungen kreisen dem Spektrum der Lichtenberger Hochschulen zufolge meist um die Themen Wirtschaft, Soziales und Polizei. Aber nicht nur. Kristine Kettschmer hat die Erfahrung gemacht, dass „Themen, bei denen Versuche durchgeführt werden“, besonders beliebt seien. „Auch Polizeithemen und Weltraum, aber auch Vorlesungen über juristische Themen kommen bei den Kindern gut an. Da ist es dann natürlich noch wichtiger, dass die Professor*innen es schaffen, kindgerecht zu erklären.“
Diese Prüfung hat der Politikwissenschaftler Jens Wurtzbacher bestanden. Als er über die hohe Kindersterblichkeit im subsaharischen Afrika spricht, schauen die Kinder traurig. Und als er erläutert, dass die Lebenserwartung in Nigeria nur 54 Jahre beträgt und damit 26 Jahre weniger als in Deutschland, geht ein Raunen durch den Hörsaal.
Und wo sonst nach Lehrveranstaltungen geklopft wird, geht es heute deutlich euphorischer zu: Am Ende der Vorlesung klatschen die Kinder laut.
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