Barocktage in der Staatsoper Berlin: Gott singt sehr hoch
Romeo Castellucci inszenierte das Oratorium „Il primo omicido“ von Alessandro Scarlatti. René Jacobs dirigierte ein Gastorchester aus Gent.
Seit letztem Jahr stehen im Spätherbst so genannte „Barocktage“ auf den Spielplan der Staatsoper. Die Gründe, die Matthias Schulz, der das Haus seit 2018 leitet, bisher dafür vorgetragen hat, haben mit Kunst wenig zu tun. Opern des Barock werden überall gespielt, natürlich auch an der Staatsoper, wo schon seit Jahren in jeder Saison mindestens ein Stück aus dieser Zeit neu produziert worden ist.
Schulz hat aus dieser Selbstverständlichkeit ein Instrument des Marketings gemacht, das ein genau definiertes Zielpublikum im Blick hat. Die Musik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wird heute fast immer von Ensembles gespielt, die sich mit Nachbauten historischer Instrumente darum bemühen, die in historischen Dokumenten nachweisbaren Anweisungen für die damals maßgebliche Aufführung musikalischer Werke in die Gegenwart zu übertragen.
Das Ergebnis hilft gelegentlich dem Verständnis alter Werke nach. Wirklich erfolgreich hat sich jedoch vor allem der jederzeit wiedererkennbare Klangreiz der Instrumente und der Stimmbildung durchgesetzt. Schneidend scharfe Streicherattacken und Kontratenöre verkaufen sich auf Tonträgern eben so gut wie in Livekonzerten.
Beim ersten Versuch mit dem neuen Format stand eine teure Lichtinstallation von Ólafur Elíasson im Zentrum. Simon Rattle dirigierte dazu Rameaus „Hippolyte et Aricie“, im Graben saß das Freiburger Barockorchester. Es ging gründlich schief. So leicht lassen sich die streng abgegrenzten Marktsegmente nun mal nicht verbinden.
Herausfordernd hermetisches Kunstwerk
Am vergangenen Freitag jedoch war ein ganz anderer Geist zu spüren, der deutlich über den mit Auslastungsraten von über 90 Prozent durchaus messbaren Gewinn an Marktanteilen hinausgeht. René Jacobs, ständiger Gast des Hauses und führender Kopf des historisierenden Musizierens, hat mit dem Regisseur Romeo Castellucci ein herausfordernd hermetisches Kunstwerk auf die Bühne gebracht.
Es scheint aus einem sehr fernen Raum herein zu schweben, entfaltet sich langsam in ruhigen Bildern und dann löst es sich in die Transzendenz der ewigen Hoffnung auf ein gutes Ende auf. Die Kassen füllen wird es wohl kaum, denn es verlangt meditative Distanz auf Seiten der Zuhörenden. Wer dazu nicht bereit ist, wird sich langweilen.
Es ist keine Oper. Die Musik schrieb Alessandro Scarlatti, der Vater des viel bekannteren Domenico, der es mit mit seinen über hundert kurzen Klaviersonaten bis heute in die Konzertsäle geschafft hat, wo die Genialität seiner Miniaturen übrigens viel besser zu erkennen ist, wenn sie auf modernen Konzertflügeln gespielt werden.
Sein Vater, 1660 in Palermo geboren, hat in den 65 Jahren seines Lebens nach eigener Zählung 117 Opern verfasst, dazu etwa 700 Kantaten und etwa 30 so genannte „Oratorien“, geistliche Stücke also, die in großer Besetzung, aber ohne Bühnenhandlung aufgeführt wurden. Der größte Teil dieses gewaltigen Lebenswerkes ist verloren.
Eine Andachtsübung, die auf jeden Glanz verzichtet
Jacobs hat in der Bibliothek der Basler Musikhochschule eines dieser Oratorien wiedergefunden. Unter dem Titel „Il primo omicido“ behandelt es die Geschichte von Kain und Abel aus dem dem ersten Buch Mose des alten Testaments. Scarlatti schrieb dafür eine sehr zurückhaltende, in einfachen Harmonien und Melodien ruhende Musik.Sie ist eine in zwei Kapitel aufgeteilte Andachtsübung, die auf jeden Glanz verzichtet, weil es nur darum geht, die biblische Botschaft zu verstehen.
Gott selbst singt in der Stimmlage einer Frau, hier besetzt mit dem Countertenor Benno Schachtner. Die ersten Menschen der Genesis, hier der Tenor Thomas Walker als Adam, die Sopranistin Birgitte Christensen als Eva, die Mezzosoprane Kristina Hammarström als Kain und Olivia Vermeulen als Abel kommentieren die Botschaften ihres Schöpfers. Auch Luzifer tritt auf, als Bassbariton mit Arttu Kataja besetzt. Er heizt Kains Wut über sein verschmähtes Opfer bis zum Vollzug des Brudermordes an.
Es fällt heute ohnehin schwer, eine solche Predigt zu ertragen. Sie ist ohne jede Dramatik in reizlose Musik gehüllt, deren raffinierter, selbstbewusster Minimalismus sich beim ersten Hören keineswegs erschließt. Und Romeo Castellucci macht alles noch schlimmer. Seine Bühne ist schwarz, manchmal flackern schemenhafte Schleier und rot leuchtende Lichtbalken auf, als sei Gott noch immer an der Arbeit, die Welt zu erschaffen. Adam und Eva stehen in Alltagskleidern des 21. Jahrhunderts noch Christi Geburt staunend davor, Kain und Abel hantieren mit lächerlich kleinen Feueröfchen. Von dem einen steigt tatsächlich ein dünner Rauch auf. Pause.
Danach steht Luzifer im teuren Maßanzug auf einer Wiese zwischen schwarzen Feldsteinen. Das Gras ist verdorrt. Die Klimakatastrophe hat das Endstadium erreicht. Der schwarze Himmel zeigt Sternhäufchen, Kain erschlägt seinen Bruder, danach bleibt die Bühne stumm. Jede Rolle wird jetzt nur noch von einem Kind vertreten. Zusammen erobern sie die Spielfläche, rennen ohne Choreographie herum und prügeln sich auch mal.
Statt Theater nur Bilder
Theater spielen sie nicht, denn es gibt kein Theater. Es gibt nur Bilder. Spielende Kinder, Farbflächen und am Ende eine schimmernd weiße Folie aus Kunststoff, die den Boden lose bedeckt. Darunter scheinen die kommenden Generationen des Menschen heran zu wachsen, aber so wörtlich ist das nicht zu nehmen. Es geht allein um Scarlattis Werk. Die Sängerinnen und Sänger müssen sich im Graben hinter das „B'Rock Orchestra“ stellen, das Jacobs aus Gent mitgebracht hat.
Es spielt keinen Rock, sondern in einem sehr maßvoll historisch gefärbtem Stil. Aus dem Bruch der Schauplätze des Hörbaren und Sichtbaren entwickelt sich eine enorme Spannung, in der Scarlattis musikalische Konzentration zum Erlebnis wird. Gott muss sehr hoch singen, denn auf seiner Erde beklagt Mutter Eva in schmerzvollen Halbtönen den Verlust ihrer Söhne. Ein anderer Sohn wird uns alle erlösen, versprechen Scarlattis Arien.
Die Messe der Christen ist gelesen. Kein Wort davon muss man glauben, um zu verstehen, was Religion ist: Eine absurde Hoffnung im leeren Raum, so einfach wie Scarlatti und so abstrakt wie Castelluccis kongeniale Bilder, die für sich stehen und gar nicht erst versuchen, eine Aktualität vorzutäuschen, die es nicht gibt. Am nächsten Sonntag spielt die Berliner Akademie für Alte Musik mit drei Sängerinnen und einem Sänger ein weiteres Oratorium dieses Komponisten.
Es wird um die Schmerzen der Jungfrau Maria gehen, abschreckend genug, und diesmal ohne Inszenierung auf der Bühne des großen Saales. Aber nach diesem überzeugenden Auftakt dürfte es sich lohnen, noch einmal genau zuzuhören, was Scarlatti zu sagen hatte, auch wenn es wieder nicht in unsere Zeit passt. Dass solche verlorenen Schätze jetzt nur noch unter der Marke „Barock“ zu haben sind, muss man halt als Dummheit der Gegenwart hinnehmen.
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